100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigt das Museum für Kunst und Gewerbe Propaganda-Strategien in einer faszinierenden Ausstellung

Hamburg. Jubelnd marschieren die Soldaten zum Bahnhof, sie können es kaum erwarten, per Zug an die Front zu gelangen. Jubelnd winken ihnen ihre Väter, Mütter, Ehefrauen und Kinder mit Taschentüchern und schwarz-weiß-roten Fähnchen zu. Der Krieg wird großartig und kurz sein. Bis Weihnachten, scheinen alle Beteiligten zu glauben, ist der Sieg errungen, werden die Familien wieder glücklich vereint sein.

Weil wir diese Bilder und Berichte aus Geschichts- und Schulbüchern nur allzu gut kennen, glaubten wir immer, dass es die ganze Wahrheit sei. Aber haben damals, als vor knapp 100 Jahren der Erste Weltkrieg begann, tatsächlich alle gejubelt? Keineswegs, denn neben dem zweifellos weit verbreiteten patriotischen und nationalistischen Hochgefühl gab es im Sommer 1914 auch mächtige Proteste. Hunderttausende demonstrierten in Deutschland gegen einen drohenden Krieg, vom 26. bis zum 30. Juli war es reichsweit gar eine Dreiviertelmillion. Allein in Berlin fanden am 28. Juli 1914 mehr als 30 Demonstrationen mit insgesamt 100.000 Teilnehmern statt. Erst nachdem auch die SPD am 4. August den Kriegskrediten zugestimmt hatte, kippte die Stimmung. Warum wir aber bis heute nur die Bilder der jubelnden Kriegsbefürworter, nicht aber die der Gegner kennen, hat einen einzigen Grund: Es ist das Ergebnis einer enorm erfolgreichen Propaganda, die nicht nur den Krieg in einer bis dahin ungekannten Weise beeinflusst und überlagert hat, sondern sogar noch die historische Erinnerung daran. „Der Erste Weltkrieg war das erste massenmediale Ereignis der Moderne und ein Experimentierfeld für völlig neuartige Propagandastrategien“, sagt Dennis Conrad, der Kurator der Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“, die ab diesem Freitag im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen ist. Mit etwa 400 Exponaten aus Deutschland, Frankreich, England, den USA, Italien und Österreich-Ungarn zeichnet die Schau nicht etwa den Kriegsverlauf nach, sondern untersucht vielmehr, wie die Macht der Medien in allen beteiligten Ländern den Krieg beeinflusst hat.

Gleich im Eingangsbereich ist ein 4,50 mal 6,50 Meter großes Monumentalfoto des australischen Fotografen Frank Hurley zu sehen, das einen englischen Sturmangriff in der Schlacht bei Ypern zeigt. Ungeachtet einschlagender Artilleriegranaten stürmen britische Soldaten entschlossen in zwei Angriffsreihen aus den Schützengräben dem deutschen Feind entgegen und werden dabei von Kampfflugzeugen unterstützt. Das Foto, das 1917 die Hauptattraktion einer Londoner Kriegsausstellung war, wurde vom Publikum als authentische Momentaufnahme betrachtet. In Wahrheit ist es jedoch eine Komposition aus zwölf Einzelaufnahmen, von denen einige während eines Manövers entstanden sind. „Es ist das frühe Beispiel einer Medienmanipulation, die hier bewusst als Waffe im Kampf um die öffentliche Meinung genutzt wurde“, sagt Dennis Conrad.

Für den Kampf um die Deutungshoheit der Ereignisse und die Beeinflussung der Bevölkerung setzten die am Krieg beteiligten Länder alle medialen Möglichkeiten ihrer Zeit ein, neben Plakaten und Postkarten auch Skulpturen, Kinderspielzeuge und patriotische Objekte, darüber hinaus aber auch das neue Medium Film. Die Kinos, die sich seit etwa 1910 in Europa nach und nach etablierten, boten völlig neue Möglichkeiten der massenpsychologischen Beeinflussung, denn hier kamen jeweils bis zu 1000 Menschen aller sozialen Schichten gleichzeitig zusammen. Daher nimmt der Film innerhalb der Ausstellung als damals neues Medium besonders breiten Raum ein. Zu den Filmen, die im größten Ausstellungsraum parallel auf Projektionsflächen zu sehen sind, gehört „The Battle of the Somme“, den Geoffrey Malins und John McDowell im Auftrag britischer Stellen im Juni/Juli 1916 an den Originalschauplätzen gedreht haben. Einerseits wirkt der Film in einer für das Publikum auf völlig neue Weise dokumentarisch und emotional aufwühlend, so werden zum Beispiel tote deutsche Soldaten im Schützengraben gezeigt. Doch bejubelt der „Propaganda-Blockbuster“, der bis Kriegsende mehr als 20 Millionen Zuschauer erreichte, am Ende einen Sieg, den es in der Somme-Schlacht nicht gegeben hat. In der Schlusssequenz sind britische Soldaten zu sehen, die ihre Helme schwenken und, so der Kommentar, in neue Schlachten ziehen. In Wahrheit entstanden diese Bilder vor Beginn der Somme-Schlacht, viele der hier gezeigten Soldaten hatten das mörderische Gemetzel gar nicht überlebt.

Aber um die Wahrheit ging es in den Propaganda-Strategien nicht, sondern allein um die Mobilisierung der Massen. Und dafür nutzte man besonders perfekt das Plakat, ein Medium, dem im öffentlichen Raum wirklich niemand entgehen konnte. Plakate aus allen am Krieg beteiligten Ländern, das ist in einer besonders eindrucksvollen Gegenüberstellung zu sehen, werben um persönliche, finanzielle, materielle und moralische Unterstützung der jeweiligen Armeen. Die Bildsprache ist dabei sehr unterschiedlich, während deutsche Plakate den mittelalterlichen Heldentypus tradieren, setzen französische eher auf das Mittel der Karikatur und amerikanische auf eine schon erstaunlich moderne Werbeästhetik. Doch die Zielrichtung war stets gleich, denn immer ging es um die Mobilisierung für die eigenen Kriegsziele und die Dämonisierung des Gegners. Das berühmte, von dem amerikanischen Politiker Hiram Johnson 1917 formulierte Diktum, nachdem das erste Opfer eines jeden Krieges die Wahrheit sei, wird in der klug konzipierten und vorzüglich gestalteten Hamburger Ausstellung mit einer Fülle von Beispielen auf beklemmende Weise bestätigt.

Krieg und Propaganda 14/18. Museum für Kunst u. Gewerbe, Steintorplatz. Bis 2.11., Di–So 10.00–18.00, Do bis 21.00, Infos: www.mkg-hamburg.de