Wenn die Bedeutung gleich geschriebener Wörter von der Betonung verschiedener Silben abhängt, haben wir es mit Homografen zu tun

Ina hat die zweite Fahrstunde und soll einparken. Dabei rammt sie – doch halt! Ich will diese Kolumne nicht mit einem Streit über den Primat der weiblichen Fahrkunst am Steuer eröffnen. Darum geht es heute nicht. Also noch einmal von vorn: Paul hat die zweite Fahrstunde und soll einparken, und zwar vorwärts in eine lange, freie Parkbucht. Auf halber Länge steht allerdings eine 120-Liter-Restmülltonne, die die Müllmänner nach dem Entleeren etwas schlampig im Fahrbahnbereich zurückgelassen haben. „Die musst du umfahren!“, sagt der Fahrlehrer. Paul gibt Gas und schleudert die Tonne mit der Stoßstange über den Bürgersteig in den angrenzenden Vorgarten.

„Du Trottel!“, brüllt der Fahrlehrer. Paul wehrt sich: „Sie haben doch gesagt, ich solle die Tonne umfahren.“ Dabei betont er das Wort auf der ersten Silbe. „Nein“, knurrt der Fahrlehrer, „ich habe gesagt, du sollst die Tonne umfahren!“ Er setzt die Betonung auf die zweite Silbe. Der gereizte Ton zwischen den beiden hat seine Ursache also im Missverständnis über die unterschiedliche Betonung eines ansonsten vollkommen gleich geschriebenen Wortes: umfahren bedeutet, um ein Hindernis herumzufahren, umfahren jedoch, etwas fahrend umzuwerfen.

Ein Wort, das bei identischer Schreibweise mit unterschiedlicher Betonung seine Bedeutung ändert, nennen wir ein Homograf – von griech. homós (gleich, in gleicher Weise, ebenso) und -graf (auch: -graph) zu griech. gráphein (schreiben). Homografe müssen gesprochen werden. Als geschriebene Einzelwörter bleiben sie mehrdeutig, und selbst im Textzusammenhang merken wir häufig erst am Satzende, dass wir die Bedeutung missverstanden haben und noch einmal von vorn lesen müssen. Ein bekanntes Beispiel ist der Tenor, der singt, dabei jedoch in den Tenor (Sinn, Wortlaut) des Textes passen sollte. Schlimm wäre die Verwechslung von Heroin (Droge) mit einer Heroin (Heldin). Der Fährmann kann uns ans andere Ufer übersetzen, der Dolmetscher unsere Rede in eine andere Sprache übersetzen. Der dumme August tritt auch im August auf, selbst wenn seine Rolle nicht mehr modern (zeitgemäß) ist, weil seine Witze langsam zu modern (faulen) beginnen. Man kann sich die Haare durchkämmen, aber auch die Umgebung des Tatortes nach der Mordwaffe durchkämmen.

Manchmal gilt es, je nach gewünschter Aussage die zuständige Wortfuge zu finden, etwa bei der Beinhaltung, die als Bein-Haltung oder als Be-Inhaltung aufgelöst werden könnte. Achtung auch bei der Versendung, bei der es sich nicht immer um den Auftrag an den Paketdienst handeln muss, sondern durchaus einmal um eine Vers-Endung. Vorsicht ist auch bei dem Druckerzeugnis (Druck-Erzeugnis oder Drucker-Zeugnis), den Staubecken (die Stau-Becken oder Staub-Ecken) und dem Gliedersatz (Glieder-Satz oder Glied-Ersatz) geboten.

Ein wenig anders sind die Homophone (auch: …fone) gestrickt. Ein Homophon zu griech. phōné (Laut, Ton, Stimme) ist ein Wort, das mit einem anderen gleich lautet, aber verschieden geschrieben wird. Wir hören also keinen Unterschied, aber wir sehen ihn im Schriftbild, etwa bei der Lehre und der Leere, der Weise und der Waise, der Lerche (Vogel) und der Lärche (Baum) oder sogar dreifach: Ferse (Teil des Fußes), Verse (Gedichtzeilen) und Färse (junges Rind). Die Polizei war dem Täter dicht auf den Fersen und nicht etwa auf den „Versen“, wie es Fritzchen im Diktat geschrieben hat.

Wir können andere Seiten aufschlagen, müssen aber andere Saiten aufziehen. Wenn wir in ihm ganz andere Saiten seines Wesens zum Erklingen bringen, wird der Klang der Geige auf den Charakter übertragen. Es wäre peinlich, hier „Seiten“ zu schreiben. Dann hätten wir in die falschen Saiten gegriffen. Den Laib des Brotes hält sich Mutter vor ihren gut gepolsterten Leib, wobei sie beim Schneiden achtsam mit dem Messer umgehen sollte.

Homonyme wiederum sind Wörter „gleichen Namens“, die mit einem anderen Wort äußerlich gleich sind, sich aber in Bedeutung und Grammatik unterscheiden. Häufig liegt der Unterschied im Genus, im grammatischen Geschlecht: der Gehalt (Inhalt, Wert) und das Gehalt (Bezahlung) sind Homonyme, ebenso das Schild (vom Maler) und der Schild (vom Ritter).

Der Verfasser, 72, ist „Hamburgisch“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags