Von den geheimen Geschichten alter Häuser und der Frage: Wer war die Frau, die vor vielen Jahren an meinem Gasherd kochte?

Der Herd, der in meiner Küche steht, ist bestimmt über 60 Jahre alt. Es ist ein Gasherd, und er stand schon in der Wohnung, als die alte Frau noch hier lebte, und manchmal denke ich an sie, wenn ich an diesem Herd stehe. Ich frage mich dann, ob auch sie immer mit geöffneter Balkontür gekocht hat, besonders jetzt, wo der Frühling beginnt und am späten Nachmittag die Vögel anfangen zu singen und man das ständige Rauschen des Hafens dahinter fast vergisst. Dann ist die Welt da draußen immer das Gegenteil von leer. Ob die alte Frau Kinder hatte? Und wenn ja, wo leben die wohl heute?

Nicht weit von meiner Wohnung steht das Altonaer Kinderkrankenhaus. 1914 war es von der Großen Wilhelminenstraße hierher gezogen, und auch hier stehe ich oft und frage mich, ob meine Großmutter hier einmal lag, als sie krank war und noch ein Kind, ob ihre Mutter auch mit ihr hierher gekommen war, zur Säuglingsmilchküche, von der heute noch der eiserne Schriftzug geblieben ist. Ich versuche mir dann vorzustellen, wie die Welt aussah, in der sie lebte, kurz nach der Jahrhundertwende. Und seltsamerweise ist diese Welt dann immer schwarz und weiß. Letztendlich ist jedes Viertel in Hamburg voll davon. Voll von Ecken, an denen man anhält und sich fragt, wie das Leben an genau dieser Stelle gewesen sein mag, und das sind die schönsten Momente in einer Stadt, in denen man zum Historiker des eigenen Viertels wird. Nur dass die Kapitel, die man in Gedanken schreibt, mehr aus Fragezeichen bestehen als aus tatsächlichen Fakten. Man hängt sie an Bäume und legt sie auf Fensterbänke, und niemand kann sie sehen, bis auf einen selbst. Bei jedem Spaziergang wieder. An dem Haus mit den tiefen Fenstern zum Beispiel komme ich oft vorbei, das war bestimmt mal eine Backstube – so dick wie der Schornstein noch ist. Daneben ist ein Neubau entstanden. Er hat gar keinen Schornstein mehr, auf ein Dach hat man auch gleich verzichtet. Dafür gibt es glatte Fassaden und bestimmt eine sehr gute Wärmedämmung.

Nur fünf Gehminuten vom Kinderkrankenhaus entfernt liegt die Adolf-Jäger-Kampfbahn, das 105 Jahre alte Fußballstadion von Altona 93. Wer die Geschäftsstelle in der Griegstraße betritt, kann die alte Zeit noch einmal besuchen: Weil da Bücher mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen in den Vitrinen stehen, Bücher über die großen Jahre dieses Vereins. Die Männer im Stadion trugen damals Hut und einen Mantel. Bei Schnee spielten die Fußballer in kurzen Hosen, so etwas wie Funktionskleidung war zum Glück noch nicht erfunden. Frauen waren kaum im Stadion. Im Hintergrund ragen Fabrikschlote in den Altonaer Wochenendhimmel.

In den USA sieht man oft in ganz normalen Nachbarschaften Tafeln an der Straße, auf denen historische Fotos zu sehen sind.

Sie erzählen die Geschichte der Häuser, vielleicht auch die der Menschen, die in ihnen gelebt haben und sicher keine Berühmtheiten waren. Meistens stammen diese Tafeln von den Anwohnern, zusammen ergeben sie einen richtigen Rundgang durchs Quartier. Man kann ihn antreten, wann man möchte. Man braucht nicht einmal ein Smartphone mit Navigations-App dafür.

Vor kurzem ist die Großmutter meines Schwagers gestorben. Sie lebte in Berlin und war sehr alt. Einige Wochen vor ihrem Tod hatte er sie noch einmal besucht und ein Foto mit seinem Handy gemacht, auf dem waren sie beide zu sehen. Er zeigte es ihr in der Minute, in der er es aufgenommen hatte. Das hatte sie schon nicht mehr verstanden. Wenn ich eines Tages alt bin, werde ich wohl auch nur noch die Hälfte von dem verstehen, was dann technisch möglich ist, und wenn meine Enkel sich ihre Wohnungseinrichtung aus dem 3-D-Drucker zusammenpuzzeln, werde ich mit dem Rollator nur noch staunend daneben stehen.

Wenigstens ist das ein Bild, über das ich lachen kann. Das ist aber nicht das einzige Gefühl in mir, wenn ich wie jetzt im Frühling die Tür zum Balkon öffne, um beim Kochen die Vögel zu hören. Inzwischen ist da auch eine Unsicherheit, ein kleines Zögern. Bin auch ich irgendwann die alte Frau, die mal in dieser Wohnung gelebt hat? Die nichts hinterlässt außer einem Gasherd in einer Küche – und unsichtbare Fragezeichen auf den Fensterbänken.

An dieser Stelle schreibt Iris Hellmuth jede Woche über das Zusammenleben der Generationen