Das EU-Verfahren gegen Stromrabatte für die Industrie ist irrsinnig und brandgefährlich

Verschwörungstheoretiker werden sich in dem am Mittwoch eingeleiteten Verfahren der EU gegen die Ökostromrabatte für die deutsche Industrie bestätigt sehen. Hatte der EU-Währungskommissar nicht mehrfach kritisiert, Deutschland sei gerade für seine südeuropäischen Nachbarn zu wettbewerbsfähig? Hat die EU-Kommission nicht vor einem Monat angekündigt, den deutschen Exportüberschuss zu überprüfen? Und nun geht der EU-Wettbewerbskommissar Joaquin Almunia, ein Spanier, gegen die Vergünstigungen für Industriebetriebe mit hohem Stromverbrauch vor. Hat sich Brüssel gegen Deutschland verschworen?

Sicher nicht. Die Öffentlichkeit in Europa tickt weiterhin sehr national. Es ist eine Schwäche dieser Wahrnehmung, jede Maßnahme gegen das eigene Land zu skandalisieren und Sanktionen gegen andere Staaten zu übersehen. Und dass die deutsche Energiewende, dieser überstürzt eingeschlagene Sonderweg, in einer Union mit Binnenmarkt und Gemeinschaftswährung auf Widerstand stoßen würde, darf niemanden überraschen. Zudem werden die Industrierabatte, die in Deutschland aufgrund ihrer absurden Ausweitung ebenfalls umstritten sind, zunächst nur überprüft – mit offenem Ausgang.

Das macht die jüngsten Irrungen der EU aber nicht besser. Zwar regieren in Brüssel keine Verschwörer, aber leider regiert dort allzu oft eine Bürokratie, die mitunter zwischen ahnungslos und dumm agiert, wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit Europas geht. Erfolg ist oft verdächtiger als Misserfolg; statt großer Reformen geht es mehr um kleinkarierte Regelungen.

Auch der jüngste EU-Vorstoß gegen die Industrierabatte ist eine Mischung aus Ahnungslosigkeit und politischer Dummheit. Kaum 24 Stunden nach seiner Vereidigung hat Sigmar Gabriel, der neue Superminister für Wirtschaft und Energie, ein ernstes Problem. Und die EU-Kommission ein paar Gegner mehr: Die IG Metall sieht in dem Verfahren einen „Anschlag auf die deutsche Industrie“, Unternehmer fürchten eine „massive Schwächung des Wirtschaftsstandorts“. Auch Angela Merkel gab sich in ihrer Regierungserklärung ungewohnt kämpferisch: Eine Schwächung der deutschen Industrie und Arbeitsplatzverluste werde sie nicht hinnehmen.

Bei so viel Einigkeit über die politischen Lagergrenzen hinweg sollte die Kommission einmal in sich gehen. Es ist bizarr, in den Stromrabatten eine wettbewerbsrelevante Vergünstigung zu erkennen. Deutsche Unternehmen ächzen längst unter Strompreisen, die in Westeuropa nur noch in Italien höher liegen. Die drohenden Rückzahlungen der Rabatte sind für viele Unternehmen existenzbedrohend – statt Geld zu investieren, müssen die Konzerne Rückstellungen bilden. Das EU-Verfahren schürt die Unsicherheit, die Gift für jede Investition ist. Welcher Chemiekonzern, welche Aluminium- oder Kupferhütte, welches Stahlwerk wird nun ernsthaft in Deutschland noch Geld in die Hand nehmen? Die Brüsseler De-Industrialisierungspolitik wirkt mit Verzögerung, aber sie könnte umso heftigere Verheerungen nach sich ziehen. Es droht ein Exodus der Grundstoffindustrie, der weitere Branchen mit sich reißen könnte. Europa würde davon kaum profitieren. Denn die USA erleben angesichts der Schiefergas-Revolution (Fracking) und extrem günstiger Strompreise gerade eine industrielle Renaissance.

Deutschland ist gut durch die Krise gekommen und zum Rettungsanker in Europa geworden, weil dieses Land eine starke Industrie hat. Der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung ist mit 26 Prozent beispielsweise doppelt so hoch wie in Frankreich und signifikant höher als in allen Krisenstaaten.

Deshalb gilt Deutschland als Modell. Dieses Modell zu beschädigen wäre ebenfalls ein Muster: ein Modell europäischer Dummheit.

Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur des Abendblatts