Der echte Ganztagsbetrieb kann für Gymnasien richtig sein. Die Rückkehr zu G 9 ist es nicht

Als in Hamburg vor zehn Jahren die Schulzeit an allen staatlichen Gymnasien ziemlich rabiat um ein Jahr gekürzt wurde, fiel das in die Phase des kollektiv traumatisch erlebten „PISA-Schocks“. Jahrzehntelang gepflegte und lieb gewonnene Einschätzungen von der angeblichen Qualität der schulischen Bildung in Deutschland waren mit einem Schlag erschüttert. Das Land Goethes, Kants und Max Plancks war im internationalen Bildungsvergleich nur noch Mittelmaß, wenn überhaupt.

Als dann noch bekannt wurde, dass die deutschen Abiturienten älter sind als viele ihrer europäischen Kollegen, die die Schule ein Jahr früher verlassen, blieb nennenswerter Widerstand gegen das „Turbo-Abitur“ an den Gymnasien aus. Sollen die Kinder doch nicht nur besser lernen, sondern auch schneller, dachten nicht zuletzt bildungsbeflissene und karriereorientierte Eltern aus Sorge um die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihres Nachwuchses in Zeiten der Globalisierung. Bezeichnend: Die Schulzeitverkürzung an Gymnasien, die mittlerweile in fast allen Bundesländern eingeführt wurde, hat dem Siegeszug dieser Schulform keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: In Hamburg wird konstant mehr als die Hälfte eines Viertklässler-Jahrgangs für das Gymnasium angemeldet.

Und doch: Nach einer Dekade der Erfahrung mit dem „Turbo-Abitur“ in Hamburg ist es längst an der Zeit, das sogenannte G8 kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die in der Frühphase der Reform immer wieder angekündigte Entrümpelung der Lehrpläne hat in nennenswerter Form nicht stattgefunden. Vor allem in den Klassen 7, 8 und 9 ist die wöchentliche Zahl der Unterrichtsstunden sehr hoch, mancherorts zu hoch. Zusammen mit dem insgesamt erhöhten Unterrichtstempo führt das zu Lernstress bei einem Teil der Schüler. Erschwerend kommt hinzu, dass Freizeit und Erholung, dass Ablenkungen von der Schule zu kurz kommen.

Es ist daher durchaus menschlich verständlich und sympathisch, wenn nun von der Hamburger Volksinitiative „G9-jetzt-HH“ die Forderung erhoben wird, zum alten Modell des längeren Lernens am Gymnasium zurückzukehren. Trotzdem ist die Rolle rückwärts der falsche Weg. Die Reform der Reform würde neue Probleme im Hamburger Schulsystem schaffen, die wir uns nicht aufladen sollten. Das erste Argument gegen G9 am Gymnasium ist schlicht: Es gibt G9 in Hamburg bereits – und zwar flächendeckend an Stadtteilschulen. Wer seinem Kind mehr Zeit zum Lernen gönnen möchte, kann diesen Weg wählen. Zweitens: Sollten auch die Gymnasien wieder G9 ins Programm nehmen, dann verlöre die Stadtteilschule ein Alleinstellungsmerkmal. Noch mehr Eltern als ohnehin schon würden ihr Kind aufs Gymnasium schicken. Bestehen kann die Stadtteilschule als zweite Säule auf Dauer aber nur, wenn sie als glaubwürdige Alternative zum Gymnasium wahrgenommen und auch von leistungsstärkeren Schülern besucht wird, denen Lehrer das Abitur zutrauen.

Dennoch ist es richtig, wenn jetzt, wie etwa von den Grünen vorgeschlagen, die Gymnasiasten ein Stück weit entlastet werden. Die Umstellung auf den für alle Schüler verpflichtenden Ganztagsbetrieb kann für viele Standorte der richtige Schritt sein. Die Aussicht, dass um 16 Uhr die Schule einschließlich der Hausaufgaben beendet ist, dürfte viele Schüler und auch ihre Eltern überzeugen. Stressmindernd würde auch eine bessere Verteilung von Klassenarbeiten und Klausuren und die Vermeidung der Konzentration auf wenige Wochen wirken.

Viele der sinnvollen Vorschläge zu einer Entlastung der Gymnasiasten liegen schon länger auf dem Tisch. Und auch Schulsenator Ties Rabe (SPD) hat seine Bereitschaft dazu erklärt. Allein, noch ist leider nichts geschehen. Die Zeit drängt.

Der Autor leitet das Landespolitik-Ressort des Abendblatts