Die Sozialdemokraten überschätzen sich – dabei müssen sie Neuwahlen besonders fürchten.

Das muss man erst einmal schaffen: Arbeitgeber, Gewerkschaften und Wirtschaftsweise protestieren einmütig gegen eine Regierung, die noch gar nicht im Amt ist. Sie eint die Fassungslosigkeit über die Ideen der schwarz-roten Unterhändler, die Finanzreserven der Sozialversicherung zu verschleudern: Die momentan diskutierten Milliardengeschenke für Zuschuss- beziehungsweise Mütterrente oder einen früheren Ruhestand reichen aus, nicht nur die Rentenkassen zu plündern, sondern mit einem Federstrich die mutigen Reformen zweier Jahrzehnte abzuräumen.

Wer bislang für eine schwarz-rote Koalition argumentierte, weil diese Konstellation zwischen 2005 und 2009 das Land geschickt durch die Krise gesteuert hat, muss bald Abbitte leisten. Es sind zwar größtenteils die gleichen Beteiligten, aber offenbar führen gefüllte Sozialkassen, sprudelnde Steuereinnahmen und gute Wirtschaftsdaten zum kompletten Realitätsverlust der Politik. Union und SPD, in den vergangenen Wahlen deutlich gerupft, wollen sich offenbar die Herzen der Deutschen erkaufen.

Besonders dreist treibt es derzeit die SPD. Mit Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wollten die Sozialdemokraten noch die Mitte überzeugen, jetzt wird links marschiert. Der SPD-Parteitag hat den Katalog unverhandelbarer Forderungen weiter verlängert. Stand bislang mit gutem Grund nur der Mindestlohn in Deutschland auf dieser Liste, hat SPD-Parteichef Sigmar Gabriel nun noch die doppelte Staatsbürgerschaft hinzugefügt. Damit nicht genug: Mit der Homo-Ehe formulierte zuvor SPD-Parteivize Manuela Schwesig eine weitere Bedingung für die Zusammenarbeit. Das kann man selbstbewusst nennen – oder Selbstüberschätzung.

Natürlich sind die Sozialdemokraten Getriebene: Der SPD-Parteitag hat wieder einmal gezeigt, wie wichtig gerade an der Basis die reine Lehre ist, wie groß die Sehnsucht nach der Opposition bleibt. Doch das ständige Nachlegen der SPD droht die Stimmung unter den Verhandlungsführern zu vergiften – und das Wahlergebnis vom 22. September auf den Kopf zu stellen.

Nur um die Zahlen der Bundestagswahl noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die SPD landete mit ihrem Programm, das nun offenbar zur Richtlinie der Politik werden soll, bei 25,7 Prozent; die Union, die mit 41,5 Prozent der Sieger des Wahlabends war und für einige Minuten sogar von einer absoluten Mehrheit der Sitze träumen durfte, hat ihre Überzeugungen verdrängt – in inhaltlichen Fragen zeigt die Partei inzwischen die Beweglichkeit eines Schlangenmenschen. Dennoch bleibt es politisch kühn, ja tollkühn, als kleinerer Partner sein Blatt zu überreizen. Andererseits gehört dazu immer eine Partei, die das mit sich machen lässt.

Was hindert die Union eigentlich daran, ihrerseits ein paar Pflöcke einzuschlagen und die eigenen Forderungen in den Mittelpunkt zu stellen? Die CDU hat kaum etwas zu verlieren, bei den Sozialdemokraten ist das anders. Sie muss das Verhandlungsergebnis noch ihren Mitgliedern vorlegen: Sollte eine schwarz-rote Koalition am Votum der Parteibasis scheitern, würde dies die SPD erschüttern. Sie hat keinen Plan B: Ein Linksbündnis zum jetzigen Zeitpunkt wäre Wahlbetrug.

Die Union hat hingegen zwei Alternativen: Sie kann erneut mit den Grünen sprechen – deren gesellschaftspolitische Forderungen decken sich zwar mit der SPD, finanzpolitisch aber dürften sie in der Nach-Trittin-Ära liberaler werden. Oder die CDU zieht das Ass Neuwahlen aus dem Ärmel. Diese könnten entweder die Union zur absoluten Mehrheit tragen oder den alten Partner FDP wieder beleben. Angela Merkel und Horst Seehofer müssten dem Bundesbürger nur deutlich machen, dass die SPD die Schuld am Scheitern trägt. Auch das schafft die SPD schon allein.