Phantom-Tor: Warum nur der Videobeweis Schiedsrichter und Spieler entlasten kann

Hätte der Platzwart oder der Linienrichter das Tornetz richtig geprüft, hätte der Schiedsrichter besser hingesehen, hätten die Hoffenheimer Spieler deutlicher reklamiert – und hätte der vermeintliche Torschütze Stefan Kießling wenigstens deutlich gemacht, dass er der Meinung ist, den Ball neben das Tor geköpft zu haben: Es wäre bestenfalls eine lustige Anekdote des neunten Spieltags der Fußball-Bundesliga geworden, vielleicht nicht einmal gut genug für einen Saisonrückblick. Aber das Leben spielt sich nun mal nicht im Konjunktiv ab, weder auf noch neben dem Platz. Und so wurde ein Tor, das Bayer Leverkusen auf der Siegerstraße gegen Hoffenheim ein Stück weiterbrachte, zu einem Skandal, der weit über den Kreis der Fußballinteressierten hinaus lange diskutiert werden dürfte.

Da ist die Frage nach der Redlichkeit: Ist von Spielern im Profigewerbe zu erwarten, dass sie im Eifer eines Spiels jederzeit ihre Synapsen so unter Kontrolle haben, dass sie durch ihre Aussagen zum regelgemäßen Fortgang einer Partie beitragen? Das wäre in der Theorie sicher wünschenswert (und dann hätte Manuel Neuer beim WM-Achtelfinale 2010 gegen England auch zugeben müssen, dass der Schuss von Frank Lampard von der Latte aus hinter seine Torlinie geprallt war), ist aber in der Praxis nicht so. Wer jemals in wenigstens halbwegs ambitionierten Ligen auf Wettbewerbsebene Sport getrieben hat, der weiß, dass auch ohne den großen finanziellen Druck verschwiegen und gelogen wird, dass sich die Torbalken biegen.

Warum aber ist das so? Sport ist eine Ausdrucksform des Menschen und ist Teil seines Spieltriebs, laut Hirnforschern angesiedelt im Bereich des limbischen Systems, das auch das „emotionale Hirn“ genannt wird und eben nicht vornehmlich von der Vernunft beherrscht wird. Deswegen gibt es ja Schiedsrichter, die einen anderen Blick auf das Geschehen haben und eben nicht Teil des eigentlichen Spiels sind. Klar, es gibt Gegenbeispiele, bei denen Sportler eine Situation klargestellt haben, das ist bei der Vielzahl an Spielen und Geschehnissen auch kein Wunder. Aber das sind Ausnahmen. Nicht zu verwechseln ist der jetzt diskutierte Vorgang auch mit dem vorsätzlichen Betrug, etwa durch das Vortäuschen eines Foulspiels, der einem sehr rationalen Handlungsplan folgt und entsprechend mit Gelben Karten geahndet wird.

Der Weltfußballverband Fifa als oberster Regelhüter verfolgt in diesem Spannungsfeld zwischen theoretisch Erwünschbarem und tatsächlicher Praxis seit Jahrzehnten eine klare Linie: Es gilt die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters im laufenden Spiel. Bei der Vielzahl der Partien, die Woche für Woche weltweit durchgeführt werden, ist das bei aller Härte im Einzelfall auch der richtige Weg, sonst würde der Sport in kürzester Zeit vor allem an Verhandlungstischen ausgetragen werden. Im Ligasport, egal welcher Sportart, gibt es deswegen die lakonische Einsicht, dass sich auf lange Sicht die Zahl der Benachteiligungen und der Bevorzugungen schon irgendwie ausgleichen wird.

Es wäre dennoch falsch, auch diesen aktuellen Fall einfach abzutun. Zumindest im Profibereich muss es ein Ende haben, dass die Schiedsrichter von der Fifa künstlich dumm gehalten werden. Schon der Chip im Ball hätte die richtige Lösung gebracht, denn die Torlinie hätte der Ball bei seinem Flug durch das Außennetz nicht überquert und also keinen Impuls ausgelöst. Aber auch die Möglichkeit einer Überprüfung von Situationen per Videobeweis – der ja wie in anderen Sportarten in der Anzahl pro Spiel begrenzt werden könnte und schnell herzustellen ist – würde den Charakter des Spiels nicht schädigen und Schiedsrichter und eben auch die Spieler deutlich entlasten.