Parteien versprechen im Wahlkampf Wohltaten, an deren Umsetzung niemand glaubt

Europa in der Krise, die gemeinsame Währung in Existenznöten, der Staat verschuldet bis über beide Ohren: Und die Parteien tun im Wahlkampf so, als sei alles wie immer. Es wird versprochen, was geduldiges Papier, auf dem die Wahlprogramme geschrieben werden, so hergibt. Am Wochenende stiegen die Grünen in das große Wunschkonzert mit ein. Mindestens eine halbe Million neuer Arbeitsplätze werden angekündigt. 50 Milliarden Euro sollten dafür investiert werden – in Bildung, Betreuung, Energiewende, Klimaschutz, Straßen, Schienen, Strukturwandel und Netze.

Da war die CDU mit ihren 30 Milliarden für mehr Mütter-Renten, mehr Geld für Kinder, Milliarden für Straßen und WLAN für alle noch beinahe bescheiden. Erst recht im Vergleich mit der SPD, die ein 80-Milliarden-Rundumsorglospaket vom Ausbau der Stromnetze über neue Schulen und Wohnungen bis zum Breitbandinternet parat hält. Den Vogel schießen die Linken ab mit 160 Milliarden Euro jährlich für Mindestlöhne, Mindestrenten und mehr Hartz IV. Äußerst zurückhaltend nimmt sich dagegen die FDP aus. Die Liberalen versprechen, unter anderem weiter für „ein transparentes und einfaches Steuerrecht mit moderaten Sätzen und wenigen Ausnahmen“ kämpfen zu wollen. Die Erfahrung lehrt, dass das in Deutschland genauso unrealistisch ist wie die Umsetzung des Wahlprogramms der Linken.

Was dann nach der Wahl folgt, ist auch bekannt: Der Kassensturz hat ergeben – welch Wunder bei mehr als zwei Billionen Euro Staatsschulden –, dass leider doch nicht genügend Geld für neue Wohltaten da ist; der Koalitionspartner sperrt sich oder die Euro-Krise droht mit voller Wucht zurückzukehren.

Die meisten Wähler dürften inzwischen begriffen haben, dass die Zeit mehr ein Umsteuern in der Haushaltspolitik hin zu soliden Finanzen als immer neue Ausgaben verlangt. Nur die Parteistrategen glauben noch immer, ein Wahlkampf verlaufe nur dann nach allen Regeln der Kunst, wenn von den Balkonen ihrer Zentralen neue Gaben für das Volk angekündigt werden. Wohltaten, die selbiges Volk freilich mit seinen Steuern bezahlen muss – oder die aus genannten Gründen dann doch nicht kommen. Nun mag es ja sein, dass der eine oder andere Bürger vom Staat noch immer neue Leistungen erwartet, auf Gerechtigkeit dank immer mehr Umverteilung und administrativer Eingriffe hofft – im Gegensatz zu den Schweizer Eidgenossen oder den US-Bürgern, die froh sind, wenn ihnen die Regierung möglichst wenig dreinredet und sie ihr Leben so weit wie möglich selbst gestalten können. Da sind unterschiedliche politische Traditionen am Wirken. Der Glaube an die allgemeine staatliche Fürsorge dürfte allerdings auch bei uns erschüttert sein. Und so flüchten immer mehr in das Lager der Nichtwähler, interessieren sich in ihrer Not für Protestparteien oder gehen nur noch aus Bürgerpflicht ins Wahllokal.

Dabei können es die Parteien in der Praxis besser: Rot-Grün hat seinerzeit mit den Hartz-Reformen den Grundstein für die heutige Krisenfestigkeit der Bundesrepublik gelegt, die Große Koalition hat den ersten Sturm unter anderem mit verlängertem Kurzarbeitergeld und Abwrackprämie abgewettert, Schwarz-Gelb hat – trotz aller Unzulänglichkeiten im Regierungsalltag – Kurs gehalten. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Beschäftigungsquote hoch. In Europa gelten wir als – wenn auch teils angefeindetes oder wenigstens beneidetes – Vorbild. Was uns noch fehlt, ist eine Angleichung der Wahlkampfkultur an die aktuelle politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirklichkeit. Das würde dem Wahlsieger nach dem 22. September dann auch peinliche Erklärungen sparen. Aber wahrscheinlich liegen die auch schon ausformuliert in den Schubladen parat.

Der Autor leitet das Politikressort des Hamburger Abendblatts