Dabei sollten wir bei aller Strenge nicht über die Stränge schlagen. Über die Digitalisierung des Wissens im Zeitalter von Wikipedia

Gedruckte Bücher, so richtig auf Papier, gebunden, vielleicht sogar bibliophil gestaltet in Leinen mit Lederrücken, Seitenbändchen und Schuber, befinden sich auf dem Rückzug. Es mag ja noch einige Versprengte geben, die das haptische (greifbare) Vergnügen nicht missen wollen, sich mit einem Buch und einer Tasse Kaffee in den Wintergarten zurückzuziehen, um sich in aller Muße der Lektüre der Weltliteratur zu widmen – die Jugend liest, wenn sie überhaupt liest, immer häufiger digital auf dem Tablet, Monitor, Smartphone oder sonst wo, wenn das Gerät nur ein Display in hoher Auflösung hat.

Ein wenig erinnert die Entwicklung an den „Eisernen Gustav“, der 1928 mit seiner Pferdekutsche von Berlin nach Paris zuckelte, um gegen den Niedergang des Droschkengewerbes und die steigende Zahl der Autos und der Benzintaxis zu demonstrieren. Die Aktion war rührend, nostalgisch, aber erfolglos. Er konnte die Motorisierung ebenso wenig aufhalten wie wir jetzt die Digitalisierung der Medien und des Wissens.

Die Buchhandlung, die mein Großvater 1885 in einem Ort zwischen Hamburg und Lübeck gegründet hat, steht heute leer, obwohl in bester Innenstadtlage angesiedelt. Die kranke Inhaberin fand keinen Nachfolger. Das ist eine, wenn auch symptomatische Meldung aus der Provinz. Bezeichnender war der Paukenschlag, dass der Medienkonzern Bertelsmann die Inkarnation des groß- und kleinbürgerlichen Wissens, den Brockhaus, einstellen muss.

30 schwere Bände als Staubfänger im Wohnzimmerregal, häufig Papa an der Haustür aufgeschwatzt, weil Sohnemann dadurch angeblich in der Schule besser werde, lassen sich nicht im Ranzen transportieren und haben eine beklagenswerte Aktualität, wenn – übertrieben ausgedrückt – unter A Adenauer noch Bundeskanzler ist.

Der Brockhaus hatte gegen die digitale Wikipedia keine Chance mehr, die mit akzeptabler Qualität und erdrückender Quantität im Internet und über Google überall kostenlos abrufbar ist. Aus der Wikipedia lassen sich heute ganze Dissertationen zusammenkopieren. In Zukunft werden Doktorgrade nicht mehr wegen Plagiaten aberkannt, sondern ein Dr. phil. oder Dr. jur. wird in einen Dr. googl. umgewandelt.

Bei aller Begeisterung oder Akzeptanz für die neuen Möglichkeiten – die Rechtschreibung sollten Sie Ihre Kinder nicht im Internet oder auf dem Smartphone (bekanntlich der nächsthöhere Level nach der Anlauttabelle) recherchieren lassen. Nach einer früheren Untersuchung ist das Verb „lizensieren“ das am häufigsten falsch geschriebene Wort im Netz. Ungefähr 250.000-mal wirft Google es in dieser Schreibweise aus, wenn neuerdings auch die Frage eingeblendet wird: „Meinen Sie lizenzieren?“ Natürlich schreibt man das Verb mit zweimal „z“, denn es kommt von Lizenz (anders übrigens als rezensieren, bei dem wir mit nur einem „z“ auskommen müssen).

Häufig falsch geschrieben sind auch die Begriffe „Obulus“ (richtig: Obolus), „sympatisch“ (sympathisch), „Imbus“ (Inbus), „Terasse“ (Terrasse), „seperat“ (separat), „Matraze“ (Matratze), „Billiard“ (Billard), „symetrisch“ (symmetrisch) und – als Gesellenprüfung auf dem Gebiet der Orthografie – der Rhythmus, der, bitte schön!, mit zweimal „h“ zu schreiben ist. Man staunt, welche unterschiedlichen h-Variationen uns angeboten werden.

Es reicht nicht, einen Fehler im Netz mit sich selbst zu verifizieren, ab und zu muss man auch nach dem Bezug für die Schreibweise suchen. Kürzlich war von einem „schmalen Grad“ zu lesen und der Gefahr, „über die Strenge zu schlagen“. Bei aller Strenge, hier schlagen wir über einen Strang oder mehrere Stränge. Nach Celsius oder Duden mag ansonsten ein hoher Grad der Peinlichkeit erreicht sein, aber beim schmalen Grat handelt es sich um eine Kante oder einen Bergkamm, und der schreibt sich mit „t“, sodass wir bei einer Gratwanderung durch die Rechtschreibung nicht das Gleichgewicht verlieren sollten.

Beim Entgelt ist zwar häufig Geld als Eintritt, Gebühr oder Buße zu leisten, aber das Substantiv kommt vom Präfixverb entgelten und wird deshalb mit „t“ geschrieben. Toll! In diesem Fall gibt es keine „Tolleranz“. Oder Toleranz? Bitte so. „Brilliant“ das Ganze. Pardon!, brillant natürlich.

Der Verfasser, 71, ist „Hamburgisch"- Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags