Syrische Flüchtlinge werden für die Türkei zum Problem

Das US-Nachrichtenmagazin "Time", wahrlich kein Revolverblatt, berichtet über ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein syrischer Rebellenkommandeur einem toten Regierungssoldaten Organe aus dem Körper schneidet, um sich unter dem Jubel seiner Mitkämpfer daran gütlich zu tun. Man sollte sich nicht sperren, das grausige Detail aus dem Bürgerkrieg zur Kenntnis zu nehmen, wenn man begreifen will, was dort derzeit geschieht. Der unter dem jahrzehntelangen Assad-Regime ohnehin arg ausgedünnte zivilisatorische Firnis der syrischen Gesellschaft platzt großflächig ab. Die Fronten zwischen Rebellen und Despotie lösen sich in eine unübersichtliche Gemengelage auf, in der militante Muslime, Al-Qaida-Kämpfer, iranische Milizionäre, reguläre Armee-Einheiten und kriminelle Warlords gegeneinander kämpfen.

Die türkische Regierung hat sich mit der Aufnahme von mehr als 300.000 syrischen Flüchtlingen redlich bemüht, die desaströsen humanitären Folgen des Krieges zu mildern. Ausgerechnet dieser barmherzige Akt verschärft nun die ohnehin zum Zerreißen angespannte Lage an der Grenze. Nach dem heimtückischen Anschlag auf die türkische Stadt Reyhanli wenden sich die Menschen dort gegen die Regierung in Ankara - und gegen die syrischen Flüchtlinge. Deren Anwesenheit, so heißt es, habe den Tod über Reyhanlis Familien gebracht. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan steht unter Druck und wird es auf Dauer nicht bei verbalen Angriffen auf das Assad-Regime bewenden lassen können, dem man das Attentat anlastet. Es sind aber auch kurdische Rebellen und linksradikale Terroristen in der Gegend unheilvoll aktiv. Tag für Tag wird das Nato-Mitglied Türkei - das sich eigentlich in der Rolle des Helfers und Mittlers sah - tiefer in den Konflikt hineingezogen. Israel und der Iran sind bereits involviert.

Es mutet paradox an, doch gerade in dieser brandgefährlichen Eskalation liegt eine hauchdünne Chance. Washington und Moskau schätzen die Lage als so gefährlich ein, dass sie versuchen, ihre lähmende Konfrontation zu beenden, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Beide Mächte wollen verhindern, dass Assads Chemiewaffen in falsche Hände fallen, dass Syrien zum Dauerschlachtfeld wird oder - schlimmer - zum Auslöser eines die ganze Region erfassenden Großkonfliktes. Ein Kompromiss könnte darin liegen, dass Russland das Assad-Regime fallen lässt, der Westen aber nicht versuchen wird, eine ihm genehme Regierung zu installieren.