Dor schiet ik op, sagt der Hamburger. Ein einzelnes Wort in der Klemme zwischen Modalverben und Weißwurst-Konjunktiv

"Wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen überhaupt nicht zu gebrauchen", schreibt mir ein Leser aus Ahrensburg und fährt fort: "Diesen Reim haben uns unsere Lehrer schon vor mehr als 50 Jahren eingebimst - er wird aber im TV und teilweise auch in der Presse bedauerlicherweise und offenbar wegen Unwissenheit vergessen. Mich stört das außerordentlich."

Mich stört das auch, aber die Bitte des Lesers, die korrekte Grammatik künftig in allen Medien durchzusetzen, überfordert einen Kolumnisten. Die Grammatik passt sich im täglichen Gebrauch an und schleift sich ab. Die Sprache entwickelt sich, bis schließlich gilt, was gesprochen wird, nicht was gesprochen werden soll. Wenn das nicht wäre, würden wir heute noch so reden wie die Goten beim Kampf um Rom.

Dass "brauchen" mit Infinitiv in der Öffentlichkeit zunehmend sein "zu" verliert, liegt am Beispiel der Modalverben müssen, dürfen, können, sollen, wollen und mögen, die eine Aussage modifizieren, und zwar ohne "zu": Er hat nicht laufen müssen. In diese Reihe schiebt sich nun unser "brauchen" mit "zu": Er hat nicht zu laufen brauchen.

Es ist hochsprachlich nicht korrekt, aber nachvollziehbar, wenn die Umgangssprache eine Angleichung vornimmt. In der geschriebenen Sprache wird das "zu" vor dem Infinitiv meistens noch gesetzt, und Sie sollten es selbst beim Reden gebrauchen, um zu vermeiden, dass Ihr an die konservative Grammatik gewöhnter Gesprächspartner zusammenzuckt.

Wer wie ich als Kind vom Vater oder Lehrer immer wieder unterbrochen worden ist, sobald er ein "brauchen" ohne "zu" gebraucht hat, kann auch heute einer Fußballübertragung nicht entspannt folgen, wenn der Reporter "Reus hätte nicht abgeben brauchen!" ruft. Ich erwische mich schon einmal dabei, dass ich dem Fernsehapparat ein scharfes "zu" entgegenschleudere und dabei verpasse, dass Götze inzwischen den Ausgleich geschossen hat. Das Verb "brauchen" stellt nur ein einziges Wort im riesigen deutschen Wortschatz dar, doch es ist mit so vielen Ausnahmen behaftet, dass wir damit eine ganze "Deutschstunde" füllen oder die Teilnehmerzahl am Volkshochschulkursus "Deutsch für Ausländer" stark lichten könnten.

Das Niederdeutsche ist übrigens ausnahmsweise einmal nicht schuld am "brauchen" ohne "zu". Dort steht "to" für "zu". Auf Platt heißt es: Du bruukst keen Angst to hebben (du brauchst keine Angst zu haben) oder: Du bruukst mi nich glieks mit twee Stücken Holt to smieten (du brauchst nicht gleich zwei Holzscheite nach mir zu werfen). Allerdings werden diese umständlichen Konstruktionen lieber vermieden.

Das Verb "brauchen" wird wie die Modalverben nach dem Infinitiv eines Vollverbs nicht im Partizip II, sondern im Infinitiv eingesetzt: Er hat nicht zu schießen brauchen (nicht: gebraucht). Entsprechend modal: Er hätte nicht schießen müssen (nicht: gemusst).

In der gehobenen Sprache kann das Objekt bei "brauchen" im Genitiv stehen: Dazu braucht es keines Beweises. Diese Formulierung ist immer seltener zu finden. Der Akkusativ erobert auch hier die Umgangssprache: Dazu braucht es nur einen Anstoß.

Unzulässig ist es, in der 3. Person Singular das -t wegzulassen, wie man es auf der Straße immer wieder hört (er brauch statt er braucht ), wobei auf diesem Sprachniveau auch gleich das "zu" verschluckt wird. So weit kann die Angleichung an die t-losen Formen der Modalverben er darf, er muss, er soll nicht gehen.

Der Konjunktiv II der schwachen Verben kennt keinen Umlaut. Es heißt brauchte, brauchtest und nicht bräuchte, bräuchtest, obwohl dieser Weißwurst-Konjunktiv aus Süddeutschland wie süßer Senf auf unserer Sprache liegt. Übrigens "brauchen" (benutzen) wir unsere Ellbogen oder unseren Verstand. Nicht korrekt wäre das Verb "gebrauchen" im Sinne von "nötig haben": Ich brauche (benötige) viel Geld für den Kauf der Rheumadecke während der Kaffeefahrt, obwohl ich diesen Schund nie gebrauchen (benutzen) werde. Was sagt doch der Hamburger, wenn man ihn drängt: "Das brauchen Sie unbedingt!"? Er antwortet kurz und deutlich: "Dor schiet ik op!" Auf eine wörtliche Übersetzung wollen wir in diesem Fall verzichten.

E-Mail: briefe@abendblatt.de (Betr.: Deutschstunde)