Der Wes-Fall steht auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Er ist vom Dativ, dem Wem-Fall, bedroht

Eine Rote Liste ist eine Aufzählung bedrohter Arten, die von der Erde und aus unserem Leben verschwunden sind oder verschwinden werden, wenn wir nicht sofort und mit großer Kraftanstrengung alles für ihre Erhaltung tun. Der WWF führt etwa den Blauwal, den Brillenbär und die Echte Bärentraube auf, Bastian Sick den Genitiv.

Der Genitiv, der zweite Fall oder Wes-Fall, ist nicht vom Klimawandel bedroht, sondern vom Dativ, dem dritten Fall. Sicks Titel "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" klingt dramatisch wie ein "Tatort"-Reißer, wenn stilistisch auch ein wenig nach Klein Erna. Doch damit lassen sich Bestseller-Listen stürmen und landesweit die Säle füllen, wie es sonst nur Martin Rütter mit seinen banalen Hundegeschichten schafft.

Wenn wir Deutschen aufgefordert werden, etwas zu retten, und sei es die Grammatik, dann strömen wir herbei mit dem Duden in der Handtasche und dem "Zauberberg" im Sinn. Die Zielsetzung ist klar: Der Genitiv darf nicht sterben.

Ein besonders pralles Leben hat er nie geführt. Manche kennen ihn nur als Flexionsendung: das Wort , des Wortes , die Wörter . Zum Teil ist er erstarrt und nur von Sprachforschern freizulegen wie in mittels, rechtens, hungers oder Aufhebens .

Auch als Objekt, als Satzergänzung, führt er ein Nischendasein. Akkusativobjekte (Frage: wen oder was?) gibt es wie Sand am Meer, aber echte Genitivobjekte (Frage: wessen?) sind selten und werden immer weniger, sodass sie heute schon gestelzt klingen. Den Rest frisst der Dativ, da hat Bastian Sick recht.

Verben wie sich schämen (Der Schüler schämt sich seiner Fehler) oder bedürfen bedürfen des Genitivs als Ergänzung - in der Praxis aber vor allem das Verb gedenken .

Immer wenn ein Gedenktag naht, beschleicht mich eine Unruhe, ob auch im Genitiv gedacht werden wird. Wir gedenken nicht ihm , sondern seiner . Noch heute nach 75 Jahren wird in meiner Heimatstadt erzählt, dass seinerzeit ein Redner in brauner Uniform am "Heldengedenktag" den Arm zum damals vorgeschriebenen Gruß hob und über den Marktplatz brüllte: "Wir gedenken die Toten!" Das hing ihm und seiner Bewegung über das Grab hinaus nach.

Immer noch gibt es Grund zum Zusammenzucken, wenn in einer Nachrichtensendung aus dem Fernsehapparat tönt: Der Bundestag gedenkt dem Fall der Mauer. Man merkte, dass die Sprecherin zögerte, aber sie bekam so schnell die Grammatik nicht auf die Reihe. Ich gedenke der Schlagzeile: Senator Wagner wird dem Verkehr nicht Herr. Wir wurden dieses Dativs noch vor dem Andruck des Abendblatts Herr, der Senat des Verkehrs allerdings bis heute nicht.

Auch Präpositionen (Verhältniswörter) regieren einen bestimmten Kasus (Fall), die Präposition wegen bekanntlich den Genitiv: wegen des Regens, wegen der Menschen . Das wissen wir, dabei bleiben wir, da sind wir eisern. Allerdings nagt auch hier der Dativ an der Hochsprache: Wegen mir brauchst du nicht zu kommen. Wer heute sagen würde: Wegen meiner brauchst du nicht zu kommen, riskierte, dass sein Gesprächspartner sich an die Stirn tippte. Aber wie wäre es mit: Meinetwegen brauchst du nicht zu kommen? Korrekt und hochsprachlich.

Es gibt indes auch Fälle, bei denen wegen mit Dativ richtig ist: Wegen Geschäften war er in London. Oder wegen Geschäfte ? Diese Beispiele sind am schwierigsten durchzusetzen. Kürzlich gebrauchte eine Leserin deshalb schlimme Ausdrücke und bescheinigte der gesamten Redaktion ein Sprachniveau weit unterhalb dessen von Lothar Matthäus. "Setzen Sie doch nur einen Artikel dazu, dann sehen Sie, dass der Genitiv stehen muss!" Das Dumme ist nur: Es steht hier weder ein Artikel noch ein Attribut. In diesem Fall lautet die Regel: Ist bei stark flektierten Substantiven im Plural der Genitiv nicht zu erkennen, muss mit dem Dativ verbunden werden: wegen Geschäften , sonst aber wegen der Geschäfte, wegen dringender Geschäfte .

Auch im Singular gewinnt der Dativ immer häufiger an Boden. Ein Zettel an der Ladentür wie: Wegen Umbau geschlossen ohne Genitivendung gilt inzwischen als richtig.

Dem Genitiv geht es wie dem Seeadler. Auch der drohte auszusterben, aber es gibt ihn immer noch. Man muss den Restbestand nur konsequent schützen.

Der Verfasser, 71, ist "Hamburgisch"-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags