Auch 100 Jahre nach dem Tod des Reformers brauchen wir eine Rechtschreib-Norm.

Konrad Duden ist tot. Er starb gestern vor 100 Jahren in Sonnenberg bei Wiesbaden. Und dennoch begleitet und verfolgt uns der Großmeister der deutschen Rechtschreibung an jedem Tag. Er wird gebraucht, benutzt und teilweise gehasst - nicht der ehemalige Gymnasialdirektor mit weißem Bart aus Schleiz in Thüringen, sondern das Werk, das er hinterlassen hat. Sein Name wurde zum Warenzeichen für "den Duden", für das führende und von 1953 bis 1998 sogar amtliche Wörterbuch der Rechtschreibung.

Brauchen wir den Duden, ja brauchen wir überhaupt eine einheitliche deutsche Rechtschreibung? Der Schriftsteller Peter Schneider, 71, ("Lenz") verkündete im Deutschlandradio Kultur, er ignoriere die Duden-Rechtschreibung und beharre auf seinem "Recht auf Unbelehrbarkeit".

Einheitliche Rechtschreibregeln sind keine Überlebensfrage der Menschheit. Sie verhindern weder die Klimakatastrophe, die Hungersnot in Somalia noch den unterirdischen Bahnhof in Stuttgart, aber sie helfen, Ordnung in den orthografischen Wildwuchs zu bringen, der seit Luther in der deutschen Schriftsprache immer mehr zugenommen hat.

Wenn wir einen Brief oder ein Buch schreiben, reden wir nicht, sondern teilen schriftlich etwas mit. Der andere soll dies verstehen, ohne ein Silbenrätsel lösen zu müssen. Das gebietet die Höflichkeit, und dazu gehört eine allgemein benutzte Norm. Gerade ein Schriftsteller ist den Lesern gegenüber verpflichtet, sich nicht als Geisterfahrer wider die Orthografie zu gebärden.

Peter Schneider mag in sein Tagebuch kritzeln, was und wie er will, als Schriftsteller klingt sein "Recht auf Unbelehrbarkeit" wie die Weigerung oder Unfähigkeit, die amtliche deutsche Rechtschreibung lernen zu wollen und lernen zu können. Ein Taxifahrer, der Verkehrsregeln missachtet und bei Rot über die Kreuzung rast, gefährdet das Leben seiner Fahrgäste, ein Schriftsteller, der seine eigene "Lieblings-Rechtschreibung" kreiert, stellt sich ins Abseits.

Wenn also Rechtschreibregeln, dann welche? Schiller und Goethe haben nicht so geschrieben, wie es heute im Duden steht; aber auch damals versuchten Verleger und Drucker, eine Art Rechtschreibnorm zu verfolgen. Jeder seine eigene.

Als Duden seine Stelle in Schleiz antrat, beklagte er: "Nicht zwei Lehrer derselben Schule und nicht zwei Korrektoren derselben Offizin (Buchdruckerei) waren in allen Stücken über die Rechtschreibung einig, und eine Autorität, die man hätte anrufen können, gab es nicht." Er machte sich an die Arbeit und wurde zur Autorität.

Die amtliche Rechtschreibung von 1901/02 für Schulen und Behörden war 95 Jahre später so ausgefranst, dass selbst pensionierte Konrektoren sie nicht mehr fehlerfrei anwenden konnten. Eine Rechtschreibreform wurde am 1. August 1998 gestartet, die zwar zu 98 Prozent alles beim Alten beließ, aber gerade bei der Groß- und Klein- sowie bei der Zusammen- und Getrenntschreibung klare und einfache Regeln setzte. Wer etwas anderes behauptet, bei dem ist es eh egal, ob er die alte oder die neue Rechtschreibung nicht beherrscht.

Leider geriet die Reform 2004 in "einen geistigen Bürgerkrieg, politischen Separatismus und (eine) orthografische Guerillabewegung" (Eckhard Fuhr in der "Welt"), sodass der flugs eingesetzte (Un-)Rat für Rechtschreibung den Kultusministern überflüssige Korrekturen unterschob, aber das Bisherige stehen ließ. Man kann jetzt viele Wörter so oder so schreiben. Der Duden markiert eine der Varianten gelb als Empfehlung, aber die andere darf der Lehrer nicht als Fehler anstreichen. Niemand wird die amtliche Rechtschreibung mit oder ohne Duden ganz ohne Fehler anwenden. Das ist wie mit Mutter, die beim Abwaschen die Arie der Lucia di Lammermoor schmettert. Sie wird nie klingen wie Anna Netrebko, aber sie hat ein Ziel vor Augen, wie es sein sollte.