Zum Jahresende noch eine echte deutsche Filmperle: „Was man von hier aus sehen kann“ mit vielen Stars – und lauter tollen Einfällen.

Wann immer sie von einem Okapi träumt, stirbt jemand in dem kleinen, nie näher genannten Dorf. Wie ein Okapi eigentlich aussieht und was diese afrikanische Waldgiraffe überhaupt hier im Westerwald zu suchen hat, ist völlig nebensächlich. Wichtig ist nur: Selma (Corinna Harfouch) ist wieder mal einer erschienen. Ein böses Omen, das sich noch immer erfüllt hat. Also bleibt man lieber zuhause, damit man nicht überfahren oder vom Blitz getroffen wird. Aber den Weg zum Postkasten wagt man doch. Und schreibt seinen Liebsten noch mal. Zur Sicherheit.

Die Kopfgeburten des Romans werden zu Fleisch und Blut und starken Bildern

Eines Tages scheint der Bann gebrochen. Kein Toter nach dem Okapi! Ausgelassen spielt Selmas kleine Enkelin Luise (Ava Petsch) mit ihrem besten Freund Martin, der nur wenige Sekunden älter ist als sie, und den sie einmal, wen auch sonst?, heiraten wird. Aber dann ist Martin plötzlich weg. Hinweggefegt vom Schicksal. Der Fluch hat sich nur verspätet. Luise kann fortan nie wieder jemandem in die Augen sehen. Irgendwie sind ja alle seltsam in diesem Dorf. Aber Luise, das sagt sie als Erwachsene (nun gespielt von Luna Wedler) selbst, ist die Seltsamste von allen.

Willkommen in der schön verdrehten Welt von Mariana Leky. Ihr Roman „Was man von hier aus sehen kann“ wurde 2017 ein Bestseller. Eine Liebeserklärung an die deutsche Provinz, die es so nie gegeben hat, auch nicht in den entrückten Achtzigern, in denen diese Geschichte angesiedelt ist. Die ist bevölkert mit lauter schrulligen, skurrilen Figuren. Nicht Hinter-, aber Westerwäldler. Ein dörflicher Mikrokosmos, der einen Makrokosmos an Neurosen und Exzentrik, aber auch an Gefühlen und Sehnsüchten freilegt.

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In seiner Verfilmung gelingt es Aron Lehman, den Witz der Vorlage zu treffen und eine kongenial ver- und entrückte Welt zu erschaffen, in der die Gesetze der Logik nicht greifen, weil die Macht der Vorsehung gilt. Die Kopfgeburten der Autorin werden hier zu Fleisch und Blut und starken Bildern. Da ist die milde, aber leicht verwirrte Oma Selma.

Lauter Running Gags durchziehen den Film

Da ist der Optiker (Karl Markovics), der nur „der Optiker“ genannt wird und Selma seit Jahrzehnten liebt, ihr das aber nie eingestehen kann, weil er ständig Stimmen hört, die ihn davon abhalten. Da ist die verschrobene Marlies (Rosalie Thomass), die nie das Blut von der Wand gewischt hat seit dem letzten Suizid in der Familie.

Da ist die abergläubische Tante Elsbeth (Hansi Jochmann), die eine ganze Schar buddhistischer Mönche beherbergt. Die, als buchstäblicher Running Gag, durchs Dorf zieht. Und da ist schließlich Luise, die ebenfalls eine Gabe besitzt: Wann immer sie lügt, fällt etwas herunter. Und klar, es fällt viel herunter, denn man kann nicht jedem ungeniert die Wahrheit sagen. Auch das ist einer der vielen Running Gags.

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Eine der Running Gags dieses Films: Immer wieder ziehen die buddhistischen Mönche durchs Dorf.
Eine der Running Gags dieses Films: Immer wieder ziehen die buddhistischen Mönche durchs Dorf. © Studiocanal

Der Okapi ist als Traumfigur wohl nicht zufällig gewählt. Sieht er doch aus wie zusammengeflickt, ein Zwitterwesen, irgendwas zwischen Zebra und Giraffe. Und auch diese Geschichte ist nicht so einfach zu definieren. Mal denkt man an Romane des magischen Realismus, die in den Achtzigern so beliebt waren. Dann wieder an Aki Kaurismäki, den dunklen Film-Humoristen des Nordens. Vor allem aber an den Filmklassiker „Die fabelhafte Welt der Amélie“.

Frankreichs Amélie guckt über die Schulter

Nur dass die Hauptfigur diesmal eben Luise heißt. Aber auch sie schaut staunend auf ihre verschrobene Umwelt. Bis ihr dann doch die große Liebe begegnet. Aber in Gestalt einer der buddhistischen Mönche, der ja ein Gelübde abgelegt hat und obendrein bald nach Japan abreist. Ergeht es Luise wie dem Optiker, wird sie ihre Liebe nie eingestehen?

Die Parallelen zu „Amélie“ scheinen offensichtlich. Karl Markovics ähnelt nicht von ungefähr dem Vater von Amélie und Benjamin Radjaipour als Mönch Frederik Amélies großer Liebe. Der Kult aus Frankreich muss aber vor allem herhalten, weil man diese Komödie mit so wenig aus dem hiesigen Kino vergleichen kann. So viel Fantasie, so viel herrlich überdrehter Witz und so viel Liebe zum Detail ist im deutschen Film eher selten zu finden. Und dann gibt es eine der durchgeknalltesten und dennoch aufwühlendsten Liebeserklärungen seit Ewigkeiten. Da ist zum Jahresende noch mal eine echte deutsche Filmperle zu entdecken.

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Luna Wedler und Rosalie Thomass bei der Münchner Premiere des Films - artgerecht mit einem Okapi im Bild.
Luna Wedler und Rosalie Thomass bei der Münchner Premiere des Films - artgerecht mit einem Okapi im Bild. © Studiocanal

Ein weiterer Triumph für Aron Lehmann, der sich mehr und mehr als Meister der deutschen Filmkomödie erweist. Ob er die berühmte Cyrano-de-Bergerac-Liebesgeschichte auf deutsches Schulniveau herunterbricht („Das schönste Mädchen der Welt“) oder buchstäblich und sogar im Titel „Die letzte Sau“ durchs Dorf treibt. „Was man von hier aus sehen kann“ ist in diesem Jahr schon sein zweiter Film, der ins Kino kommt, nach „Jagdsaison“, den er zusammen mit seiner Frau Rosalie Thomass geschrieben hat. Ihr gelingt hier sogar die Kunst einer gänzlich komischen Figur, obwohl sie keine einzige Pointe hat.

Was man von hier aus sagen kann: Dieser Film ist eine der schönsten Komödien des Jahres, des ausgehenden wie auch des anstehenden, bei dem jedem irgendwann das Herz aufgehen muss. Am Ende beschenkt er einen sogar mit lauter Anfängen. Aber mehr soll hier nicht verraten werden.

Filmkomödie Deutschland 2022, 109 min., von Aron Lehmann, mit Corinna Harfouch, Luna Wedler, Karl Markovics, Rosalie Thomass, Benjamin Radjaipour