Essen. Ein großartiger Henry Hübchen als Autor in der Sinnkrise: „Spätwerk“ ist ein eindringliches wie spannendes ARD-Selbstfindungsdrama.

Ein Mann überfährt im Suff einen Tramper, begeht Fahrerflucht, kehrt später zurück und vergräbt den Toten schließlich in einem Wald. Eigentlich ist das die probate Ausgangssituation für einen routiniert entwickelten 08/15-Krimi. Doch Autor Karl-Heinz Käfer und Regisseur An­dreas Kleinert halten in ihrem Fernsehdrama „Spätwerk“ die Spannung hoch, ohne sich auch nur eine Sekunde dem Krimigenre zuzuwenden. Auch und vor allem dank Henry Hübchen.

Der 71-jährige Charakterdarsteller spielt den Unfallfahrer: Paul Bacher, einst einer der prägenden deutschen Schriftsteller, gleichsam der Walser seiner Generation, steckt in der Krise. Seit Jahren hat er nichts veröffentlicht. Er fühlt sich leer, „mein Interesse an mir selbst hat sich erschöpft“, erklärt er seine Schreibblockade, die eher eine Verweigerung ist.

Mit Rotwein betäubt er seine Enttäuschung

Die verhassten Lesereisen durch die Provinz locken nur noch ein paar Verehrerinnen im Seniorenalter; dass ihm seine Lektorin gelegentlich eine besondere Autorenpflege zukommen lässt, ist mehr Schicksal als Erfüllung.

Bacher weiß, dass er ein Relikt der Vergangenheit ist, und er betäubt diese Gewissheit mit Wein und Hochprozentigem. Der Unfall ereignet sich nach einer dieser erwartungsgemäß deprimierend verlaufenden Lesungen. Verzweifelt und angeekelt von sich selbst bricht Bacher die Lesetour ab, fährt zurück nach Berlin, tankt vorher aber noch einmal an der Hotelbar auf.

Schriftsteller droht am Tod des Trampers zu zerbrechen

Der Unfall bedeutet eine Zäsur. Der Zyniker, der das Leben bisher nur schreibend hat bewältigen können, wird plötzlich in eine Realität geworfen, die mit seinen schützenden fiktionalen Welten nichts mehr gemein hat.

Wie Henry Hübchen diesen getriebenen, in sich zerrissenen Schriftsteller spielt, der einerseits an der Schuld am Tod des Trampers zu zerbrechen droht und der andererseits nicht fähig ist, zu dem tragischen Geschehen zu stehen, geschweige denn darüber zu reden, schon das allein setzt ein Glanzlicht im Fernsehalltag.

Enddreißigerin wird auf Umwegen zur Frau an seiner Seite

Doch „Spätwerk“ ist mehr als ein Solo für einen großen Schauspieler. Hübchen gleichberechtigt zur Seite steht, durchaus eine Entdeckung, Patrycia Ziolkowska: Auf der fatal endenden Lesereise hat Bacher die viel jüngere Lehrerin Teresa kennengelernt. Eine flüchtige Bekanntschaft nur, aber die Begegnung lässt Bacher nicht los.

Die aparte Enddreißigerin, für die Literatur ebenfalls die letzte Zuflucht vor einem Leben voller Enttäuschungen bedeutet, wird auf Umwegen zur Frau an seiner Seite. Auch ihr gegenüber offenbart er sein Geheimnis nicht, und doch ist sie die Kraft, die etwas in ihm auslöst, die ihn befreit: Eine kurze Erzählung über den Tod eines Trampers, stilistisch weniger ambitioniert als sein bisheriges Werk, wird von Kritik und Lesern begeistert aufgenommen.

Zwei großartige Protagonisten

Es scheint, als merke niemand, dass der Autor eine heimliche Beichte abgegeben hat. Leider wirkt das abrupte Ende etwas konstruiert. Doch darüber sieht man nach 90 überzeugenden Minuten gern hinweg.

Fazit: Ein so eindringliches wie spannendes Selbstfindungs-Drama, das mit Henry Hübchen und Patrycia Ziolkowska zwei großartige Protagonisten hat.

Sendetermin: Mittwoch, 16. Mai, 20.15 Uhr, ARD