Essen. Im neuen Bremer „Tatort“ geht es um den Mord an einem Gutachter, betrügerische Pflegedienste und die Abgründe des Gesundheitssystems.
Die Tochter ohrfeigt die Mutter. Die Mutter ohrfeigt die Tochter. Die Tochter weiß, dass sie in den vergangenen vier Jahren jeden Abend zu Hause war. Die Mutter weiß gar nichts mehr. Sie ist dement. Dörte Lyssewski und Hiltrud Hauschke spielen dieses Symbolpaar des familiären Notstands, der sich so oder so ähnlich in unzähligen Haushalten abspielt.
In der „Tatort“-Episode „Im toten Winkel“ sind sie Teil eines Top-Schauspiel-Ensembles in einem beeindruckenden Themen-Film.
Er ist deshalb so gelungen, weil er sich erst einmal eine Dreiviertelstunde Zeit nimmt, bevor der stilbildende „Tatort“-Mord geschieht: Der Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix) liegt erschlagen im Wasser. Vorher war er unfreiwillig derjenige, der den Bremer Kommissaren Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) den Weg in die Pflegewelt wies. Es ist eine hochproblematische Welt, die die Ermittler in keiner Weise kalt lässt.
Der 85-Jährige hat seine demente Frau erstickt
Weil sie in diesem gesellschaftskritischen „Tatort“ (Drehbuch: Katrin Bühlig, Regie: Philip Koch) zum Beispiel zunächst auf den 85-jährigen Horst Claasen (Dieter Schaad) treffen, der seine an Alzheimer erkrankte Frau mit dem Kissen erstickt hat.
Bremer „Tatort“: Die Abgründe der Pflege
Auch er hat sich lange Zeit aufopferungsvoll gekümmert, aber dann erlahmte die Kraft. Und die Finanzkraft. „Sie konnten sich ihr Leben nicht mehr leisten hier. Das muss man sich mal vorstellen. Hier in Deutschland“, sagt eine melancholisch gestimmte Inga Lürsen in einem ihrer letzten Auftritte im ARD-Flaggschiff: Bald ist ja Schluss für das Bremer Duo.
Persönliches Drama trifft auf gesellschaftliche Misere
Dass Letzteres schade ist, davon mag dieser Fall zeugen. Er verdichtet persönliche Dramatik und gesellschaftliche Misere und wirft ein grelles Licht auf kriminelle Machenschaften bei Pflegediensten. Im Vorjahr gab es Medienberichte über Hunderte aus dem russisch-eurasischen Bereich stammende ambulante Pflegedienste, die durch falsche Abrechnungen Millionen Euro einsackten.
Bei diesen mafiös verbundenen schwarzen Schafen der Branche bediente sich das Drehbuch erkennbar. Für die Ermittler stellt sich die Frage, wie tief der ermordete Gutachter in den organisierten Betrug involviert war – und wer ihn warum umgebracht haben könnte.
Die Moral ist nicht mit dem Strafgesetzbuch zu fassen
Was nach Klischee klingt, ist noch lange nicht holzschnittartig: Die Pflegerinnen sprechen hier mit polnischem Akzent. Statt Fachkräfte setzen diese Unternehmen in der Intensivpflege Ungelernte ein, rechnen aber voll ab. Besonders bitter erscheint die Darstellung der Hilfsbedürftigen, die aus purer Geldnot gemeinsame Sache mit dem Pflegedienst machen.
Dieser „Tatort“ zieht seine Stärke aus der Eindringlichkeit der Handlung, er versteht es, eine Atmosphäre der Hilflosigkeit zu schaffen. Und er stellt auch die Frage nach der Moral, die eben nach anderen Maßstäben zu beantworten ist als dem Strafgesetzbuch. Sie plädiere für ein „Recht auf sozialverträgliches Frühableben“, sagt Lürsen einmal. Ein weiteres brisantes Thema, das dieser Film anschneidet.
K „Tatort“, 11. März 2018, ARD, 20.15 Uhr