Essen. Wie steht die junge Generation zum Revolutionsführer? Die Arte-Doku „Keine Ruhe für Genosse Lenin“ geht in Russland auf Spurensuche.

Da latschen sie mit Schutzfolie an den Schuhen durch Überbleibsel der Vergangenheit. Links ein dunkler Holzstuhl, rechts eine fragwürdige Lampenkonstruktion, an den Wänden kleine Schwarz-Weiß-Abzüge historischer Gesichter – alles Dinge, mit denen Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin (1870–1924) einst in Berührung gekommen sein soll. Angestrengt versucht die Schülergruppe aus Sankt Petersburg, ihre müden Gesichtszüge zu überspielen, während die Leiterin des Staatsmuseums für Russlands politische Geschichte mit ausladenden Gesten von der Sowjetunion erzählt – diese ganze Geschichte mit Lenin ist halt Schnee von gestern. Oder?

100 Jahre nach der Oktoberrevolution ist der Personenkult um das ehemalige Staatsoberhaupt in weiten Teilen Russlands zu einer zwiespältigen Angelegenheit geworden. Mit neugierigem Blick und vorsichtiger Distanz begibt sich Sven Jaax’ Dokumentation „Keine Ruhe für Genosse Lenin“ pünktlich zum Jubiläum auf die Spuren des Revolutionsführers – und trifft dabei auf glühende Anhänger, Menschen, die Lenin als kaltblütigen Despoten verachten und eine Reihe von Leuten, denen Wladimir Iljitsch Uljanow inzwischen egal ist.

Russland zelebriert das Gedenken an Lenin

„Es ist schwer, sich wirklich eine Meinung zu bilden“, meint zum Beispiel eine blonde Schülerin und schaut nach dem Museumsbesuch hilfesuchend zu ihren Klassenkameraden. „Über Lenins dunkle Seiten zu sprechen, ist ja auch schwierig für uns“, wirft ein Mädchen mit rot gefärbtem Pony ein. „Jahrzehntelang hat unser Land diesen Personenkult zelebriert. Ich weiß aber, dass er nicht sonderlich loyal zu seiner Frau war.“ Die anderen lachen.

Von blinder Gefolgschaft und Glorifizierung ist bei der jungen Generation Russlands nicht mehr viel zu spüren. Der einstige Führer ist für sie zu einem zweidimensionalen Gesicht aus dem Geschichtsbuch geworden, zu dem sie ungefähr so viel Bezug haben wie die Deutschen zu Kaiser Wilhelm. Dennoch – und hier setzt die Doku an – zelebriert Russland das Gedenken an Lenin: Sein Leichnam liegt konserviert und aufgebahrt in seinem Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, über 5000 Statuen und Büsten zeigen auf öffentlichen Plätzen sein Konterfei.

Selfies vor dem Totenbett

Doch während der Reise durch die wichtigsten Stationen durch Lenins Leben wird klar: Die Erinnerungskultur ist in weiten Teilen des Landes zur Tourismusattraktion verkommen. Chinesische Reisegruppen geben sich in Lenins Heimatstadt die Klinke in die Hand, schießen Selfies vor seinem vermeintlichen Totenbett und rufen dabei vor dem Klick eben nicht mehr „Cheese“, sondern breit lächelnd „Lenin“ in die Kamera.

Die Doku mit ihrem süffisant-ironischen Kommentar bleibt stets distanziert: Ganz ernst nimmt man den Führerkult und so manche nostalgische Überzeugung, die man hie und da findet, nicht. Dennoch führt Jaax die Menschen in ihrem Weltbild nicht vor, sondern zeigt vielmehr auf, was viele Russen schon lange kritisieren: Lenins Erbe wird zur oberflächlichen Folklore.

Fazit: Spannende Analyse eines zwiespältigen Umgangs mit der eigenen Geschichte.

Dienstag, 31. Oktober, Arte, um 20.15 Uhr