Berlin. „Tag der Uneinheit – ist Deutschland gespalten?“, fragte ARD-Talkerin Maischberger. Den Aufstieg der AfD erklärte jeder Gast anders.

Boris Palmer hat es natürlich gewusst. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen liebt die Provokation – und bringt seine Partei so oft zur Weisglut. „Wir schaffen das nicht“, hielt er Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 entgegen. Dass die rechte AfD zwei Jahre später mit 13 Prozent in den Bundestag eingezogen ist, wundert Palmer, na klar, nicht. Er sei für seine Warnungen verlacht und diffamiert worden. „Das liberale Bürgertum war zu selbstgefällig“, urteilte der Kommunalpolitiker am Mittwochabend bei Sandra Maischberger.

Die ARD-Moderatorin suchte kurz nach dem „Tag der Deutschen Einheit“ nach Gründen für das starke Abschneiden der Rechtspopulisten, insbesondere im Osten. In den neuen Ländern hat die Partei ihre Hochburgen, in Sachsen wurde sie sogar stärkste Kraft. Ostdeutschland wählt Protest – auch 27 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Der abgehängte Ostdeutsche? Nur ein Klischee

Maischbergers Runde präsentierte natürlich nicht den einen Grund, jeder Gast lieferte seine eigene Erklärung. Die „taz“-Journalistin Bettina Gaus etwa sieht in der AfD kein ostdeutsches Phänomen. „Die Partei hat auch im Westen stark abgeschnitten“, sagte sie. Die Wut der Wähler resultiere aus einer als ungerecht empfundenen Globalisierung und den Demokratiedefiziten der Europäischen Union. Der Grüne Palmer wiederum glaubt, dass die Union viele Konservative nicht mitgenommen habe und die Linke die Sorgen der Bevölkerung nicht erst genug nahm.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. © WDR | Max Kohr

Mit dem Bild vom abgehängten Ostdeutschen, der aus Protest AfD wähle, räumte der Journalist Ralf-Dieter Brunowksy auf. „In Sachsen haben AfD-Wähler ein überdurchschnittliches Einkommen, die sind nicht enttäuscht“, sagte er. Die Ostdeutschen seien auch keine Verlierer. „Es sind Milliarden Euro an Transferzahlungen geflossen, dafür erwarte ich keine Dankbarkeit, der Osten sollte aber endlich mal die Ärmel hochkrempeln“, so der ehemalige „Capital“-Chefredakteur.

Ein SPD/AfD-Ehepaar

Doch woher kommt diese Wut, der Frust? Immerhin boomen Städte wie Dresden, Leipzig, Jena. Die Arbeitslosigkeit in Sachsen etwa ist niedriger als in NRW. „Vielen Menschen ist die Geschwindigkeit der Veränderung zu hoch“, erklärte der CDU-Politiker Martin Patzelt, der in Frankfurt (Oder) seinen Wahlkreis gegen den AfD-Politiker Alexander Gauland verteidigte. Der Osten habe einen rasanten Umbruch hinter sich. „Wir müssen viel stärker die Anpassungsleistungen würdigen, die wir im Osten erbracht haben“, sagte er.

Dass der Riss nicht nur durch Ost und West, oben und unten, sondern auch durch Familien geht, verdeutlicht wohl niemand so gut wie das Ehepaar Hansen aus Schleswig-Holstein, das auch in Maischbergers Runde saß. Kerstin Hansen ist Tierärztin und SPD-Mitglied, ihr Mann Frank, ein Marineoffizier, trat der AfD bei. Beide müssen mit Anfeindungen leben. Er, weil er in der Partei ist. Sie, weil sie seine Ehefrau ist.

Etablierte Parteien verstehen die Wut nicht

Die Talk-Gäste Kerstin und Frank Hansen.
Die Talk-Gäste Kerstin und Frank Hansen. © WDR | Max Kohr

„Wie funktioniert das bei Ihnen zu Hause?“, fragte Moderatorin Maischberger. „Wir diskutieren viel“, so Kerstin Hansen. Sie kämpfe für eine sozialere SPD, eine Mindestrente, ein bedingungsloses Grundeinkommen. Ihr Mann stehe für konservative Werte. Den Erfolg der AfD erklärt Kerstin Hansen mit sozialer Ungleichheit in Deutschland. „Wir haben die Leute mit Hartz IV komplett im Regen stehen lassen, die Existenzängste der Menschen nicht ernst genommen“.

Ihr Mann sagte: „Die AfD steht für eine Kritik am Euro und der Einwanderungspolitik, das sind wichtige Themen“. Wie eine Ehe aber so viele Widersprüche aushält, blieb unklar – schade! Was beide aber eint: Die Überzeugung, dass die etablierten Parteien es nicht geschafft haben, die wütenden Menschen mitzunehmen.

Auch „Jamaika“ ist eine Koalition des Westens

Und jetzt „Jamaika“. Kann es eine mögliche Koalition aus Union, FDP und Grünen schaffen, das Land wieder zu einen? Zumindest „taz“-Journalistin Gaus zweifelt daran, da Sozialpolitik in dieser Koalition zu kurz komme. „Die Grünen haben sich ja von ihrem linken Flügel verabschiedet“, sagte sie. Und: „FDP und Grüne passen inzwischen gut zusammen“.

Boris Palmer war da schon einen Schritt weiter, er dachte über mögliche Kompromisslinien in der Flüchtlingspolitik nach. Sein Vorschlag: Die Union könne zeigen, dass sie Abschiebungen durchsetzen könne, dafür bekämen die Grünen ein Einwanderungsgesetz. Doch all das ändert nichts an einer Tatsache: „Jamaika“ ist eine Koalition des Westens, im Osten hat das Bündnis keine Mehrheit. „Natürlich müssen auch die Ostdeutschen mitgenommen werden“, sagte CDU-Mann Patzelt.

Wenn es nur so einfach wäre.

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