Washington. Die Doku „O.J.: Made in America“ gewann einen Oscar. Arte zeigt jetzt die Serie über Rassismus, Sexismus und Polizeiwillkür in den USA.

Es gibt viele Gründe, warum der unbedingt sehenswerte Dokumentarfilm „O.J.: Made in America“ eigentlich niemals hätte funktionieren dürfen. Der schlagendste: In den USA weiß fast jeder Mensch, der Mitte der 90er Jahre am öffentlichen Leben teilnahm, bis ins kleinste Detail auch noch heute ziemlich genau, was es mit Orenthal James Simpson auf sich hat.

Football-Gott. Afro-amerikanischer Superstar. Larger than life – größer als das Leben. Und dann: In einem Nerven zersägenden Indizienprozess von dem Vorwurf freigesprochen, seine weiße Ex-Frau Nicole Brown Simpson und deren Freund Ron Goldman 1994 bestialisch ermordet zu haben.

Hochspannungskrimi aus dem wahren Leben

Die Versatzstücke der wie ein Hochspannungskrimi inszenierten Live-Übertragungen aus dem Gerichtssaal (und die stundenlange Verfolgung des in einem weißen Bronco über die Freeways von Los Angeles geflohenen Angeklagten durch Polizei- und TV-Hubschrauber ) begründeten gleichermaßen Fernseh- und Justizgeschichte. Von einem Schwall von Büchern, Analysen, Filmen und Sensationsreportagen um die Frage War-er’s-nun-oder-war-er’s-doch-nicht ganz zu schweigen.

In einem Zivilverfahren wurde „O.J.“ später doch für den Tod seiner Ex-Frau und ihres Freunds verantwortlich gemacht. 33,5 Millionen Dollar Schadenersatz an die Hinterbliebenen waren die Quittung. Aber letztlich blieb auch das nur ein Intermezzo. O.J. Simpson überfiel 2007 in Las Vegas mit bewaffneten Komplizen zwei Andenkenhändler, um sich persönliche Erinnerungsstücke zurückzuholen. Dafür, nur dafür, sitzt er seit 2008 im Lovelock-Gefängnis im US-Bundesstaat Nevada.

Doku setzt neue Standards der Exzellenz

Weil sich in wenigen Tagen Richter und Gutachter über die Frage beugen werden, ob der 70-Jährige bereits in diesem Herbst vorzeitig entlassen werden darf, was einen erneuten Medien-Hype entfachen würde, kommen die Programmplaner von Arte mit ihrem Angebot genau zu rechten Zeit. Teil 1 und 2 des jüngst mit dem „Oscar“ für die beste Dokumentation ausgezeichneten Jahrhundertwerks von Regisseur Ezra Edelman werden am Freitag, 7. Juli, ab 20.15 Uhr ausgestrahlt, Teil 3 bis 5 am Samstag, 8. Juli zur gleichen Zeit. Insgesamt sieben Stunden und 47 Minuten – und keine einzige davon überflüssig.

Wer den aufklärerischen Bildungs-Marathon durchhält, versteht besser, wie Amerika tickt(e). Und verneigt sich vor einer Arbeit, die neue Standards der Exzellenz setzt. Fast neun Jahre haben Edelman und sein Team recherchiert. Fast 800 Stunden Film-Material trugen die Macher zusammen. Über 70 Interviews mit allen relevanten Figuren im Leben von O.J. Simpson standen am Ende in den Registern. Viele davon erst nach mehreren vergeblichen Anläufen. Weil hochkarätige Zeugen, etwa die beeindruckende Geschworene Carrie Bess, das Geschehene nicht wiederbeleben wollten.

Uramerikanische Geschichte von Rassismus, Sexismus, Polizeiwillkür

Edelmans Verdienst ist es, die längst Allgemeingut gewordene Simpson-Saga von Aufstieg und von Fall eingebettet zu haben in die uramerikanische Geschichte von Rassismus, Sexismus und Polizeiwillkür.

Der kollektive Jubel unter den Schwarzen Amerikas, als Simpson den erlösenden Freispruch bekam, während viele Weiße bis heute von seiner Schuld überzeugt sind, ist ohne Watts und Rodney King kaum denkbar. Die schweren Rassenunruhen in einem sozialen Brennpunkt von Los Angeles, die auf Video festgehaltene Misshandlung eines schwarzen Taxifahrers durch vier weiße Polizisten des LAPD und die bürgerkriegsähnlichen Zustände 1992 nach deren Freispruch bildeten den Nährboden, auf dem „Black America“ seinerzeit „Bruder O.J.“ die Stange hielt. Als Simpson der Gang in die Todeszelle erspart blieb, sprachen viele von „Rache am System“.

Eine Formulierung, der die Zeit nichts anhaben konnte. Wer „O.J.: Made in America“ sieht, spürt die Sprengkraft, die bis heute nach jeder tödlichen Konfrontation zwischen (meist weißen) Polizisten und schwarzen Amerikanern mühsam unter Kontrolle gehalten werden muss.

Arte, Freitag und Samstag, 7. und 8. Juli, ab 2015