Berlin. Der neue ZDF-Film „Im Tunnel“ beginnt wie ein Krimi. Erzählt wird anschließend die Tragödie einer Psychose. Das ist außergewöhnlich.

Ein so einfacher Titel, ein so doppelter Boden: „Im Tunnel“. Wie die Kamera das uralte Mauerwerk unter Hamburgs feinem Pflaster begutachtet, da wittert der treue Hauptprogramm-Zuschauer kenntnisreich Lunte. Gleich, ahnt er, wird sich eine Leiche finden. Es kommt das aus niedersten Motiven Vergrabene ans Licht, es wird Schmutz nach oben gekehrt. Es gab ein Opfer, gewiss, aber wir haben ja die Polizei, und sie wird es lösen, damit es gut wird am Ende.

Komplett falsch! Außergewöhnliches Fernsehen am Montagabend, das sich jeder Erwartbarkeit widersetzt – gelungen ist das dem Hamburger Regisseur Kai Wessel, ausgezeichnet mit dem Grimme-Preis für „Zeit der Helden“, vielbeachtet für „Es war einer von uns“. Gleich zwei Frauen, die dieses starke Vergewaltigungsdrama damals trugen, begegnen wir „Im Tunnel“ wieder: Maria Simon in der Hauptrolle der Maren, Astrid Ströher als Drehbuchautorin.

Ein Spiel mit unserer Wahrnehmung

Ströhers Buch erzählt Marens Geschichte als analytisches Drama. Wessels Regie wiederum jongliert souverän mit klassischen Motiven des Paralleluniversums (von „Der dritte Mann“ bis „Beautiful Mind“), äußerlich wie innerlich. Solches Spiel mit der Wahrnehmung können wir zunächst nur verlieren. Selbstverständlich sind wir auf der Seite einer tapfer kämpfenden Frau, die ihren Bruder erschlagen in seiner Wohnung findet.

Mehr als einmal hat dieser nette Mann seiner Schwester Maren erzählt, welchen auffällig seltsamen Ärger ein international agierender Großentsorger ihm mache. Nun ist er ein Mordopfer. Maren sucht – und findet: Atommüll, illegal verklappt unter Hamburg. Die Polizei winkt ab. Doch je mehr die Umgebung sich distanziert, desto stärker sieht Maren sich als investigative Erlöserin: „Nie hätte ich gedacht, dass die Menschen, die ich am meisten liebe, meine Feinde sind.“

Trip in ein bröckelndes Seelenlabyrinth

Am Nasenring zieht Wessels Regie uns durch seine wendungsreiche Story. Marens Verdacht: völlig berechtigt! Russische Atomganoven im Nadelstreif: was sonst? Doch Ströhers Buch hält früh verunsichernde Sequenzen einer Therapiestunde bereit. Sie zeigen Maren abgewirtschaftet und krank in Haft. Am Ende hat sie sogar den eigenen Mann mit einem Messer angegriffen. Was heißt das?

Die Reise in einen Tunnel voller krimineller Energie – optisch überragend organisiert von The Chau Ngos Kamera – ist in Wahrheit der Trip in ein bröckelndes Seelenlabyrinth. Maria Simon spielt das so kühn, dass wir selbst uns ertappen, diese Frau loswerden zu wollen – wer will schon eine, die im hanseatischen Designerhäuschen die Apokalypse zu Tisch bittet? Simon kostet diese Monsterpartitur fulminant aus – von der leisen Hochfrequenz wachsender Verzweiflung bis zum Brachialbass am Vorschlaghammer. Kinoreif an diesen 88 Minuten ist manches, über Durchschnitt vieles – was man Qualitätsfernsehen nennen darf.

Fazit: Fernab von Schmunzelkrimi und berechenbarer Mörderjagd. Dieser Tunnel-Blick gilt dem Abgrund Mensch. Nur leichte Punktabzüge: für Längen in der zweiten Hälfte.

ZDF, Montag, 20.15 Uhr