Berlin. An welchen Schrauben der Agenda 2010 soll die Politik drehen? Um diese Frage ging es im Talk von Maybrit Illner. Und auch um die Würde.

Wie gut oder schlecht geht es den Deutschen — und was hat die Agenda 2010 mit dem Zustand der Republik und der Situation der Deutschen zu tun? „Zurück in die Zukunft – weniger Agenda, mehr Gerechtigkeit?“: Diese Frage warf Maybrit Illner bei ihrem Talk in die Runde. Wieder einmal lieferte der SPD-Kandidat Martin Schulz also mit seinem Wahlkampfgerassel das Talk-Thema.

Der Titel der Sendung war geschliffen formuliert, doch krankte der Talk an etwas, was nicht gerade eine Nebensächlichkeit darstellt: der Diskussionsgrundlage. Denn was gab es Neues zu diskutieren, außer dem Vorstoß von Schulz, die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld-I-Empfänger bei Wahrnehmung von Weiterbildung auf 48 Monate zu verlängern? Nicht viel.

Es fehlte an konkreten Vorschlägen, an denen sich die Gäste hätten abarbeiten können. Aber immerhin: So lag die Stärke des Talks darin, offenzulegen, unter welchem Druck Hartz-IV-Empfänger stehen. Und zu zeigen, dass es falsch ist, von „den Deutschen“ oder „der Republik“ zu sprechen, statt auf den Einzelnen zu blicken. Im Kern ging es um diese Fragen:

• Dramatisiert Schulz die Situation in Deutschland und betreibt Populismus?

„Martin Schulz baut kein Gespenst auf“, sagte der Ökonom und Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Tatsächlich gebe es zwar insgesamt mehr Wohlstand in Deutschland als vor der Agenda 2010. Doch sei das Geld eben sehr unterschiedlich verteilt, wie Studien – etwa das Soziökonomische Panel – zeigten. „Es gibt demnach ein Auseinanderlaufen der Einkommensentwicklung“, konstatiert Bofinger. Die unteren zehn Prozent hätten mit Einkommensverlusten zu kämpfen.

CDU-Mann Jens Spahn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, kam ihm entgegen, zumindest wenige Schritte. „Ja, es gibt ein Ungerechtigkeitsgefühl in der Bevölkerung. Aber es ist falsch, das zu überzeichnen. Das hat nichts mit der Realität zu tun.“ Seine Schlussfolgerung mit Blick auf Schulz: Der SPD-Kanzlerkandidat betreibe Populismus, nichts anderes.

• Sollte das Arbeitslosengeld I gekoppelt an Weiterbildungen verlängert werden?

Bisher erhalten Erwerbslose nicht mehr als zwölf Monate Arbeitslosengeld I, bei Über-50-Jährigen steigt die Höchstdauer auf 24 Monate. Schulz hat vorgeschlagen, die Bezugsdauer insgesamt auf 48 Monate zu verlängern, wenn sich die Empfänger im Gegenzug weiterqualifizieren.

Jens Spahn warnte vor alten Fehlern: „Wichtig ist, dass die Qualifizierungen ganz gezielt erfolgen und nicht am Arbeitsmarkt vorbeiqualifiziert wird.“ Auch der Ökonom Michael Hüther kritisierte, dass viele Weiterqualifizierungen an der Realität des Arbeitsmarktes vorbeigingen.

Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, will verhindern, dass arbeitslose Menschen „auf die Armuts-Rutschbahn“ geraten.
Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, will verhindern, dass arbeitslose Menschen „auf die Armuts-Rutschbahn“ geraten. © imago/Metodi Popow | imago stock&people

Ganz anders argumentierte die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer. „Der Qualifizierungsbedarf wird auch in Zukunft steigen.“ Und: „Wir müssen bei Hartz IV schauen, dass die Menschen nicht auf eine Armuts-Rutschbahn geraten.“

Bestehende Programme zur Weiterbildung müssten weiterentwickelt werden. „Es ist schlicht und ergreifend nicht genug Geld da, um die Leute in Hartz IV zu qualifizieren. Wir brauchen ganz andere Ansätze.“ Welche es braucht? Das verriet Dreyer dem Publikum nicht.

Jens Spahn stellte fest: „Wir sollten nicht wieder mit der Gießkanne vorgehen.“ Es brauche Hilfe für bestimmte Gruppen, zum Beispiel die Alleinerziehenden oder die älteren Langzeitarbeitslosen.

• Wie fühlt sich die Agenda für die Menschen an?

Leistungskürzungen, damit teilweise nur 301 Euro zum Leben im Monat, ein Regelsatz ohne Sanktionen von 13 Euro pro Tag: So sieht die Hartz-IV-Realität einiger Deutscher aus. Als Kronzeuge für das triste Leben in der Arbeitslosigkeit lud die Redaktion Mike Szczeblewski ins Studio ein. Der ehemalige Vorarbeiter in der Lackiererei im Opel-Werk in Bochum verlor seinen Job und kam in eine Transfergesellschaft.

Szczeblewski kritisierte „ein Lohndumping durch die Agenda“. Weil er befürchtet, in die Leiharbeit zu rutschen und dort dauerhaft schlechter bezahlt zu werden, lehnte er bislang die Arbeitsangebote der Transfergesellschaft ab. Der 39-Jährige bewarb sich bei zahlreichen Arbeitgebern. „Ich bin eigentlich schon froh, wenn ich eine Absage bekomme, weil es zumindest eine Reaktion ist“, sagte der Bochumer. Viele Unternehmen machten sich gar nicht erst die Mühe, zu antworten, beklagte er.

Schulz setzt in Arbeitsmarktpolitik auf Qualifizierung

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    Dass es vielen Arbeitslosen um einen würdevollen Umgang geht, beobachtete auch Inge Hannemann, ehemalige Arbeitsvermittlerin und Linke in der Hamburger Bürgerschaft. Sie hob hervor, dass viele Arbeitslose neben der Arbeitslosigkeit noch mit vielen anderen Problemen kämpfen – Schicksalsschläge, Krankheiten, Verwerfungen in der Familie. „Wir reden in der Diskussion immer nur über die Menschen, fast nie mit den Menschen“, kritisierte Hannemann. Zumindest für einige Momente in dieser Sendung war diese Regel mal außer Kraft gesetzt.

    Die ganze Folge sehen Sie in der ZDF-Mediathek.