Berlin. „Klingelingeling“ ist der Münchner Weihnachts-„Tatort“ betitelt: Süß war daran nichts, dafür beweist das Film-Team Mut zur Melancholie.
Besinnlich war dieser „Tatort“ nicht. Ist vielleicht auch ein bisschen viel verlangt von einem Krimi, und trotzdem: Gut möglich, dass die Münchner Geschichte mit Baby Lucian, das nur ein paar Stunden alt wird, vielen Fans zu hart war als Abendunterhaltung am ersten Weihnachtsfeiertag.
Dabei passt das Thema hervorragend in die Zeit: Wie arm sind Bettlerinnen und Bettler wirklich dran? Noch ärmer als gedacht, in diesem Fall – der „Tatort“ zeichnet ein düsteres Bild von Mafia-artigen Strukturen in der Bettelszene. Neben anderen Rumäninnen und Rumänen werden die Schwestern Anuscha (Cosmina Stratan) und Tida (Mathilde Bundschuh) von den Aufsehern Radu und Calin zum Betteln gezwungen und misshandelt. Dadurch kommt Anuschas Baby zu früh auf die Welt – und stirbt.
Stärkste Szene
Vier Polizisten und ein Priester stehen um eine Babyleiche, die vor der Krippe im Altarraum einer Kirche liegt. Die Gesichter sind so grau wie dieser Münchner Wintertag, die Trauer, die Miroslav Nemec als Ivo Batic und Udo Wachtveitl als Franz Leitmayr spielen, ist schmerzhaft spürbar. Nur der Kameraschwenk mit Leitmayrs Blick zum Kruzifix ist ein visueller Gefühls-Vorschlaghammer, der völlig überflüssig ist.
Harter Feiertags-„Tatort“ aus München
Beste Beobachtung
Die Passanten, die einfach mal mit dem Handy filmen, wie eine Frau in den Krankenwagen verfrachtet wird, passen gut ins zeitgemäße (Straßen-)Bild.
Größte Übertreibung
Das romantische Stadtstreicher-Leben der Obdachlosen: Die haben sich malerisch auf dem Friedhof eingerichtet, bekommen täglich Kaffee vorbeigebracht, und auch sonst wirkt ihr Dasein gar nicht so ungemütlich – das ist schon reichlich rosig dargestellt.
Interessantester Denkanstoß
Wer beschäftigt sich nicht mit der Frage, ob man bettelnden Menschen Geld geben sollte? Und wenn ja: Wie wählt man aus, wem man etwas gibt, wenn man nicht gerade übermäßig viel Geld hat? Und sollte eine Bettlerin oder ein Bettler von anderen „beaufsichtigt“ werden – ist das ein guter Grund, nichts zu geben?
Alles interessante Überlegungen, die der Film von Regisseur Markus Imboden nach einem Drehbuch von Dinah Marte Golch anspricht, wenn auch zum Teil einen Hauch zu pädagogisch in den Abhandlungen des Bettler-Beauftragten der Polizei. Die Antworten müssen die Zuschauer allerdings selbst finden.
Größter Schreck
Tida ist doch nicht im Wochenbett gestorben. Als sie von den Für-tot-Gehaltenen wieder aufersteht, muss nicht nur der mit dem Verscharren beauftragte Busfahrer Klaus Bernauer (Florian Karlheim) nach Luft schnappen.
Überflüssigste Szene
Drei Polizisten unterhalten sich beim lautstarken Pinkeln: Das möchte doch niemand sehen. Oder hören.
Müdester Running Gag
Handy-„Klingelingeling“-Töne. Ein Jimi-Hendrix-Gitarrenriff warnt Kommissar Leitmayr vor den Anrufen seiner nervtötenden Mutter, bei dem einen rumänischen Bettler-Aufseher spielt die Polka, beim anderen wird Beethovens „Ode an die Freude“ in Osteuropäisch-Moll gefiedelt. Ein bisschen sehr gewollt, das alles.
Größte Überraschung
Dass der Busfahrer, der die Menschenhandel-ähnlichen Strukturen der Bettlermafia unterstützt, vom Polizisten Plätzchen in die Hand gedrückt bekommt und mit besten Wünschen nach Hause geschickt wird, ist doch ein bisschen seltsam. Auch wenn er die totgeglaubte Anuscha aufpäppelt – er schließt sie ein, was Laien als Freiheitsberaubung interpretieren könnten. Und immerhin war er Komplize von Bettler-Aufseher Radu und seinen menschenverachtenden Machenschaften – da muss irgendwas Justiziables dabeigewesen sein.
Liebevollster Handlungsdreh
Batic hat niemanden, mit dem er Weihnachten feiern kann. Leitmayrs Mutter lässt ihn im letzten Moment mit der Sieben-Kilo-Gans sitzen. Da tun sich die beiden silbergelockten Kommissare zusammen und Tida einen Liebesdienst: Sie fahren die verwaiste junge Mutter mit dem herzzerreißend kleinen Sarg im Leichenwagen nach Rumänien, damit das Kind in der Heimat bestattet werden kann. Dieser Gegenentwurf zum Idealbild eines kuscheligen, liebvollen, Familien-Weihnachtsfestes erinnert an die vielen Menschen, für die das Fest der Liebe ganz schön schwer ist.
Bestes Bild
In der tiefschwarzen stillen Nacht Rumäniens trinken Batic und Leitmayr mit dem trauernden Großvater einen Schnaps auf das verlorene Baby: Großer Mut zur Melancholie!