Berlin. In der Nacht auf Samstag hat Jürgen Domian seinen Anrufern zum letzten Mal Gehör geschenkt. Es ist kein Abschied, der für immer ist.

Da war er wieder, der Schlüpfer. Der von Lydia, 76 Jahre alt, Rentnerin aus Refrath. Dass ihr „ein mindestens 20 Jahre älterer Mann“ die Wäsche in einem Wald bei Bergisch Gladbach heruntergezogen hat, um sich an ihrem Geschlechtsteil zu vergnügen, liegt eine kleine Ewigkeit zurück, wie die Frau bei ihrem zweiten Anruf verrät.

Und doch sorgt die Geschichte in der letzten Sendung von „Domian“ für ein wenig Heiterkeit. Denn so richtig viel zu feiern gibt es nicht. Schließlich ist es seit Freitagnacht, 1:59 Uhr, hochoffiziell: Jürgen Domian, der Seelsorger der Nation, hat sich für immer in den Feierabend verabschiedet. Halleluja, was halten wir davon?

Angst vor der Inkontinenz

Seine allerletzte Sendung möchte Domian so „normal gestalten wie immer“ – so normal ein Talk-Format dieser (einzigartigen!) Art eben sein kann. So gewöhnlich es ist, wenn eine 31 Jahre alte Frau namens Julia anruft, die mit der Angst leben muss, nicht zu wissen, wann sie das nächste Mal auf die Toilette gehen kann.

Weil sie bei einer Busfahrt Richtung England doch einmal „so schlimm in die Hose gekotet hat“. Und deshalb heute jeder Kilometer, der die Frau vom Klo trennt, zur Qual wird. „Das ist furchtbar, grauenhaft!“, bewertet Domian ihr Schicksal, über das sich manch anderer wohl vor Lachen in die Hose gemacht hätte.

Mehr als 25.000 Anrufe in 22 Jahren

Jürgen Domian aber hat in 22 Jahren und mehr als 25.000 Anrufen schon alles gehört – und kann seine „Patienten“ auch in seinem Sendungsfinale souverän durch die schwierigen Fragen des Lebens lenken.

Ramona aus Berlin ist dann auch die letzte Anruferin, die tatsächlich mit großen Herausforderungen zu kämpfen hat: Ihr Lebensgefährte ist im Frühjahr gestorben, was die 46-Jährige überfordert. Nicht zuletzt, weil die gemeinsame Tochter den Tod des Vaters nicht verkraftet, und Ramona neben finanziellen Schwierigkeiten und fehlenden Weihnachtsgeschenken vor allem „niemanden zum Reden hat“ – außer Jürgen Domian.

Domian, der gute Freund für eine Nacht

Er rät ihr, einen Trauerkreis aufzusuchen, denn „da muss etwas aufgebrochen werden, dass du Hilfe bekommst“. Die Psychologin der Sendung wird sie später anrufen, verspricht der Talker, der seine Anrufer anblickt, als säßen sie ihm gegenüber. Als trennten sie nicht Kabel und Kilometer – sondern nur eine Tischlänge.

Hilfe bekommen – das war einer der Hauptgründe, wieso durchschnittlich 200 Menschen pro Nacht hofften, mit Domian reden zu können. Weil er den sechs, sieben, acht Glücklichen, die ins Studio durchgekommen sind, Unterstützung versprochen hat. Und dass ohne sie – Mörder ja oder nein, pädophil oder nicht – vorschnell zu verurteilen. Für viele Menschen war Domian eine Nacht lang der gute Freund, den sie niemals hatten. Und doch so dringend brauchten.

Kaum Aufregung in der letzten Sendung

Wobei es auch in seiner letzten Sendung nicht nur schräg, schaurig oder schrecklich zugeht. Im Gegenteil kommen die Anrufer fast gesittet daher – selbst der Porno-Synchronsprecher kann mit „Stierschrei“-Gestöhne wohl niemandem mehr schocken. Aber Aufregung gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit Hackfleisch-Fetischisten, Aquarium-Abartigkeiten und Babykatzen in Backöfen wohl mehr als genug.

Und so nutzen treue Fans wie Lkw-Fahrer Klaus, Modedesigner Viktor, der sich extra aus Melbourne meldet, und Kriminalpsychologin Lydia die Gelegenheit, sich bei Jürgen Domian zu bedanken – ein bisschen Bauchpinseln muss erlaubt sein. „Meine Trucker sollen die Stoßstangen sauber halten“, sagt Klaus, „jetzt, da Stefan Raab, Schimanski und auch noch Domian aus dem Fernsehen verschwinden“.

„Ich wünsche euch für euer Leben Glück

Doch vor dem großen Finale bedankt sich auch Domian – bei seinen Technikern, bei seinem Team, bei den Zuhörern, den Zuschauern, den Anrufern. „Ich wünsche euch für euer Leben Glück und Gutes“, sagt er, fast flüsternd. Was er gelernt habe, sei Demut. „Und niemals geht man so ganz.“

Den weißen Porzellanhirsch unter dem Arm, das Wasserglas noch halb voll, nimmt er seine Daunenjacke und löscht ein letztes Mal das Licht. Von wilder Party keine Spur, im Hintergrund läuft Jeff Buckleys Interpretation von „Halleluja“.

Domian trifft Lydia persönlich

Aber einfach so abhauen, in den neuen Biorhythmus verschwinden? Das ist dann auch nicht Domians Ding. In wenigen Wochen, wenn er in Nordrhein-Westfalen auf Talk-Tournee geht, trifft er Lydia, die Rentnerin mit der Oral-Befriedigung gleich nach dem Friedhofsbesuch, zum ersten Mal persönlich. Weil Schlüpfer und alle Schlüpfrigkeiten des Leben die Menschen wohl für immer faszinieren. Danke dafür, Domian.