Berlin. Schmähkritik oder Satire? So diskutierte die Runde bei Anne Will über Jan Böhmermanns Gedicht über Erdogan.

Was macht eigentlich Recep Tayyip Erdogan sonntags um 21.45 Uhr? Für den Fall, dass der türkische Präsident die Talk-Runde von Anne Will verfolgt hat, dürfen sich einige der Gäste wohl auf Beschwerden aus Ankara einstellen. Denn die wagten es doch tatsächlich, ZDF-Moderator Jan Böhmermann beizuspringen, gegen den sich die türkische Regierung seit Sonntag einen Strafprozess wünscht.

„Streit um Erdogan-Kritik – Kuscht die Bundesregierung vor der Türkei?“, fragte Anne Will den Kabarettisten Serdar Somuncu, CDU-Politiker Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion, den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und Fatih Zingal, stellvertretender Vorsitzender der Union Europäisch-Türkischer Demokraten.

Was war passiert?

Moderator Jan Böhmermann steht wegen eines Schmähgedichts über Erdogan in der Kritik.
Moderator Jan Böhmermann steht wegen eines Schmähgedichts über Erdogan in der Kritik. © imago/STAR-MEDIA | imago stock&people

Erst sorgte ein Satirebeitrag des NDR-Magazins „Extra 3“ dafür, dass die Türkei den deutschen Botschafter einbestellte, dann legte Böhmermann nach und erläuterte in seiner Sendung „Neo Magazin Royale“ die Grenzen der Satire mit einer Schmähkritik. Dabei schickte er voraus, dass genau so eine Art von Gedicht in Deutschland nicht erlaubt sei. Der Eklat folgte trotzdem. Das ZDF löschte den Beitrag aus der Mediathek, die Bundeskanzlerin nannte den Text in einem Telefonat mit Erdogan „bewusst verletzend“. Und nun prüft die Regierung eine sogenannte Verbalnote der Türkei, die eine Strafverfolgung Böhmermanns in Deutschland fordert.

Sollte die Bundesregierung der Strafverfolgung Böhmermanns zustimmen?

Vier der fünf Will-Gäste meinten: nein – im Gegenteil. „Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung hinter ihren Künstler stellt“, sagte Kabarettist Serdar Somuncu, „und sich sogar verbittet, dass man sich in unsere Angelegenheiten einmischt.“ Das Studio-Publikum reagierte mit lautem Applaus. Auch Linken-Politikerin Sevim Dagdelen warnte: „Wenn man eine solche Ermächtigung erteilt, dann wird die Büchse der Pandora geöffnet.“ Und Beschwerden aus der Türkei würden bald Alltagsgeschäft. Anders sah das Fatih Zingal, dessen Partei Erdogan nahesteht. Für ihn ist das Schmähgedicht eine Straftat. „Nur weil er es einbettet, hilft das nicht, eine nicht zulässige Handlung zu einer zulässigen zu machen“, so Zingal. „Das ist nicht von der Kunstfreiheit abgedeckt.“

Ist Böhmermann also zu weit gegangen?

In den Augen von Somuncu, Dagdelen und Medienwissenschaftler Pörksen nicht. „Es ist deshalb gute Satire, weil sie aufdeckt, was geht und was nicht“, sagte Somuncu. Pörksen setzte noch einen drauf, sprach gar von einem „Stück satirischer Genialität“. Böhmermann habe eine Art Zwitter produziert, eine Schmähsatire, bei der der Inhalt des Gedichts zwar geschmacklos sei, aber er habe eine Botschaft gehabt. „Das sieht man daran, dass wir jetzt über die Grenzen der Satire reden“, so Pörksen. CDU-Politiker Brok gab allerdings zu bedenken, dass auch Politiker ein Recht auf Würde hätten.

Wenn alles gar nicht so schlimm ist, warum dann Merkels Telefonat?

„Es gehört zur Meinungsfreiheit zu sagen, dass man einen Text nicht gut findet“, wiederholte Merkel-Verteidiger Brok fast mantramäßig, während Somuncu von „vorauseilendem Gehorsam“ sprach und Dagdelen davon, dass die Bundeskanzlerin sich als Klägerin und Richterin aufgespielt habe: „Sie hat Erdogan nicht gesagt, dass über solche Fragen Richter zu entscheiden haben.“ Somuncu und Dagdelen erklärten sich Merkels Verhalten anders. „Wir sind ja nicht doof“, sagte Somuncu, „Merkel hat einen Deal mit Erdogan.“

Kuscht die Regierung wegen des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei?

Ja, fand Dagdelen: „Wäre die Geschichte vor zwei Jahren passiert, hätte die Regierung anders reagiert.“ Jetzt denke sie, sie bräuchte Erdogan als Türsteher in der Flüchtlingskrise. Auch Somuncu kam es sonderbar vor, dass die Bundesregierung eine Beschwerde Polens über einen frechen Mottowagen beim Düsseldorfer Rosenmontagszug scharf zurückwies, sich nun bei den türkischen Beschwerden zurückhalte. „Das ist doch der eigentliche Skandal!“

Ist die Kanzlerin erpressbar geworden?

Ist sie nicht, sagte Brok und erklärte: „Auch Erdogan hat Ziele. Er will wieder ins Gespräch kommen, hat große wirtschaftliche Probleme und deshalb auch ein eigenes Interesse an dem Deal.“ Wenn man den Krieg in Syrien beenden wolle, müsse man nun mal mit der Türkei zusammenarbeiten. Und weiter: „Wenn die Flüchtlinge nicht im Meer ertrinken sollen, dann brauchen wir den Deal.“ Ein Thema, dass sicher bald wieder eine eigene Sendung bekommt.