Berlin. Sandra Maischberger hat im ARD-Talk ein heißes Eisen angefasst: Zwangsprostitution bei Kindern. Selten machte eine Talkshow so wütend.

Ein schmuckes Einfamilienhaus in einer ebenso schmucken Gegend. Ein Mann packt seine kleine Nichte Lucy, nicht einmal zehn Jahre alt, in den Kofferraum seines teuren SUV und fährt sie zum Treffen mit einem reichen, gewalttätigen Pädophilen. Dann wartet er im Auto, bis der „Kunde“ das Kind zurückbringt. Wieder zu Hause, beschwert sich der Mann dann, dass ihm die Pizza nicht schmeckt. Und schon bald muss Lucy wieder in den Kofferraum.

Zwangsprostitution von Kindern, nicht irgendwo in Asien, sondern in Potsdam – in der Mitte unserer Gesellschaft. „Operation Zucker“, das war harter TV-Stoff zur besten Sendezeit, den die ARD am Mittwochabend den Zuschauern bot. Ein brutal-eindringlicher Film, verstörend in seiner Direktheit; ein Film, der nach einer Einordnung verlangte. Die gab es gleich im Anschluss bei Sandra Maischbergers Talkrunde. Wie nah ist der Thriller an der Wirklichkeit?

In der Realität noch viel schlimmer als im Film

„Das gibt es, gar keine Frage“, sagt Manfred Paulus, ehemaliger Kriminalhauptkommissar. Er selbst habe in einem ähnlichen Fall ermittelt, in dem drei kleine Jungen die Opfer waren. „Die Realität ist noch viel schlimmer als im Film dargestellt“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung. Kinder würden direkt nach der Geburt der Mutter abgekauft und an Kinderschänderkreise weitergereicht. „Die Täter wissen genau, was sie tun“, sagt Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation „Innocence in Danger“. „Sie richten die Kinder regelrecht ab.“ Das gehe bis hin zu Folter.

Ermittler, Politiker und Kinderschützer wissen also um die unfassbaren Verbrechen an Kindern, um die Netzwerke und die Hintergründe. Warum ist es dann so schwierig, die Täter zu stellen? Warum lässt sich das Dunkelfeld kaum einmal aufhellen?

• Da sind die Täter:

Die Pädophilen-Ringe sind „hochgradig organisiert“, sagt die Expertin Julia von Weiler, „die Vernetzung funktioniert unglaublich gut.“

Ex-Ermittler Paulus ist bei seiner Arbeit auf eine „verschworene Gemeinschaft im Dunkeln“ getroffen; auf Täter „aus der sogenannten besseren Gesellschaft, Akademiker überrepräsentiert“. Täter mit Einfluss, mit guten Verbindungen also, auch in die Justiz. Andreas Huckele, der als Schüler der Odenwaldschule jahrelang von einem Lehrer sexuell missbraucht wurde, nennt heute seine Peiniger von einst „sadistische Arschlöcher“.

• Da ist das Umfeld:

Nicht selten gibt es Verdacht – doch viel zu oft wird weggeguckt.

„Missbrauch geschieht auch, weil viele Wissende nicht regieren“, sagt Politiker Rörig. Man will sich lieber nicht einmischen. Da gebe es auch „falsche Rücksichtnahme“, hat die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen beobachtet. Andreas Huckele wandte sich Jahre nach seinen Missbrauchserfahrungen an die Öffentlichkeit. „Es stand in der Zeitung“, sagt Huckele in Maischbergers Runde, „und es passierte nichts.“

Auch weil die Schule den Täter schützte.

• Da sind die Opfer:

„Die Gefühle frieren ein, die Seele friert ein“, beschreibt Opfer Huckele die Situation eines Kindes, das sexualisierte Gewalt ertragen muss. Die Scham, das Trauma und das Gefühl, dass keiner einem hilft. In vielen Fällen hätten die missbrauchten Jungen und Mädchen „keine Chance, über das Erlittene zu sprechen“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig. Und wenn es dann doch einmal zu einer Aussage komme, weiß die Psychologin Julia von Weiler, „dann wird die Glaubwürdigkeit der Kinder oft in Zweifel gezogen“. Es gibt kein Entrinnen. Dann besser schweigen.

Selten in letzter Zeit hat man im Fernsehen eine derart fesselnde und zugleich bedrückende Talkrunde im Fernsehen erlebt wie am Mittwoch bei Sandra Maischberger. Sachverständige Gäste gewährten Einblicke in eine Materie, die zu selten zum Thema gemacht wird. Gastgeberin Maischberger war eine behutsame Moderatorin, die nicht unnötig zuspitzte. Dass angesichts des vielschichtigen Themas am Ende der einstündigen Diskussion keine Lösung stehen konnte, ist klar.

So blieb am Ende des Abends ein Gefühl der Wut und der Ohnmacht, das sich schon während der Films vor der Maischberger-Runde eingestellt hatte. Dort weist an einer Stelle der Staatsanwalt die von den Ermittlungen aufgewühlte Kommissarin zurecht: „Bitte nehmen Sie die Emotionen raus!“ Als Zuschauer war es unmöglich, nach diesem Fernsehabend nicht aufgewühlt zu sein.