Berlin. Die Romanverfilmung „Der verlorene Bruder“ beschreibt das westdeutsche Wirtschaftswunder - und die Wunden, die es hinterlässt.

Das Leben des 13-jährigen Max ist hart, da darf man sich nichts vormachen. Von den Jungs in seiner Schule wird er regelmäßig verprügelt, die Mädchen ignorieren ihn. Auch seine Eltern wollen kaum etwas von ihm wissen: Die wenigen Bilder, auf denen er im Familienalbum überhaupt zu sehen ist, zeigen ihn nur halb oder verdeckt. Die Mutter denkt immer nur an ihren Erstgeborenen, an Arnold, den Verlorenen.

Matti Geschonnecks wunderbar leiser, vielschichtiger Film „Der verlorene Bruder“ (Mittwoch, 9. Dezember 2015, 20.15 Uhr in der ARD) basiert auf einer Novelle von Hans-Ulrich Treichel, und man spürt die literarische Kraft der Vorlage in jedem Moment. Die Geschichte handelt vom Verlust, vom verpassten Leben. Sie erzählt von einer Kindheit im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit. Es ist das Jahr 1960, wir befinden uns in der westfälischen Provinz.

Max wird permanent ignoriert und verdrängt

Die Eltern von Max, herausragend gespielt von Charly Hübner und Burgtheater-Schauspielerin Katharina Lorenz, haben ihren ersten Sohn Arnold auf der Flucht vor den Russen verloren. Sie sind darüber nie hinweg gekommen, und sie übersehen hartnäckig ihren zweiten Sohn Max, der nur eine Art lästiges Anhängsel ist, der Vaters Auto waschen und polieren muss – ohne Anerkennung.

Seine Sicht ist die Erzählperspektive des Films, und darin liegt der eigentliche Glücksgriff. Anders als die Eltern will er das verlorene Familienmitglied nicht zurück haben. Er glaubt, der ältere Bruder würde ihn, der schon ganz am Rand steht, noch weiter wegdrängen, und vermutlich hat er damit Recht. Als in einem Heim ein Findelkind mit ungewisser Herkunft auftaucht, beginnt für seine Eltern ein bürokratischer Hindernislauf, den Max immer wieder zusätzlich zu durchkreuzen versucht.

Der Körper als Schlachtfeld des Vermessungswahns

Weil es noch keine DNA-Untersuchungen gibt, wird die Verwandtschaft anhand von Ähnlichkeiten untersucht. Die Körper der Familie werden genauestens geprüft, man nimmt ihre Fingerabdrücke unter die Lupe und ihre Ohren werden zum Gegenstand wissenschaftlicher Expertise. Der Körper als Schlachtfeld des Vermessungswahns: Subtil klingen hier die Methoden und medizinischen Perversionen im Nationalsozialismus an. Alle wollen nach vorn schauen in dieser Geschichte, aber der Krieg ist 1945 nicht einfach zu Ende gegangen, er lebt fort in den Verwüstungen der Seele.

Der Vater ist stolzer Inhaber einer Fleischerei und wird bald zum Großhändler aufsteigen, sein Auto und sein Plattenspieler sind ihm wichtig. Aber er muss, wie die Mutter, von vielem schweigen, um nicht aus der Balance zu geraten. „Was haben die Russen mit dir gemacht?“, will Max in einer ergreifenden Szene von der Mutter wissen, und die Stille der Eltern nach dieser Frage erzählt viel vom Trauma einer Generation.

Fazit: Der Film ist liebevoll ausgestattet, ohne überfrachtet zu sein und hat mit Matti Geschonneck einen verständigen, klugen Regisseur gefunden, der auch den lustigen und absurden Momenten im Leben dieses Jungen ihren Raum gibt – der übrigens in Noah Kraus einen begabten Darsteller hat, von dem wir hoffentlich noch viel hören.

„Der verlorene Bruder“: Mittwoch, 9. Dezember 2015, 20.15 Uhr in der ARD