Berlin. Der jüngste Talk von Anne Will war ein Glücksfall zwischen den vielen Sendungen zum Thema Flüchtlinge. Ungewohnt ehrlich.

Jan Greve hat eine Bürgerinitiative gegründet. Sie heißt „Nein! zur Politik Ja zur Hilfe!“. Die Initiative will die Unterbringung von 3000 Flüchtlingen in ihrem Stadtteil verhindern. Greve fürchtet ein „Flüchtlingsghetto“ in seiner Nachbarschaft. Er sagt: „Das wird uns überfordern.“

Jan Greve (42) sitzt im ARD-Studio bei Anne Will. Er spricht bedächtig, unaufgeregt, sachlich. Greve arbeitet als IT-Spezialist, er ist kein Krawallo oder Neonazi. Keiner wie die fremdenfeindlichen Schreihälse in Freital. Greve lebt in Neugraben-Fischbek bei Hamburg.

Der Ort, geprägt von Hochhaussiedlungen, ist ein sozialer Brennpunkt. Der Ausländeranteil dort ist hoch, schon seit vielen Jahren. Greve sagt: „Wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn Integration nicht gut funktioniert. Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.“

„Wir möchten helfen, aber diese Dimension ist unfassbar“

Greve und seine Mitstreiter sind bereit, 1500 Flüchtlinge in Neugraben-Fischbek aufzunehmen: „Wir liefern, wir möchten helfen.“ Aber 3000 Zuzügler? „Diese Dimension ist unfassbar.“

Neben Greve sitzt Diana Henniges. Seit August 2015 versorgt die 38-Jährige mit der 2013 von ihr mitgegründeten Initiative „Moabit hilft!“ die Flüchtlinge am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Eine Kümmerin der ersten Stunde. Eine, die die so viel zitierte Willkommenskultur tagtäglich lebt. Zu Greve und seiner Kritik sagt sie: „Ich kann seine Sätze voll und ganz verstehen. Ghettos fördern keine Integration.“ Was dort in Neugraben-Fischbek geplant ist, sei „eine Form der Apartheid, die nicht zu befürworten ist“.

Gleiches gelte für den Plan des Berliner Senates, auf dem ehemaligen Flughafengelände am Tempelhofer Feld bis 10.000 Flüchtlinge unterzubringen. „Das ist völlig absurd“, urteilte Diana Henniges, und verhindere Integration geradezu.

Anne Wills Talk zur Flüchtlingspolitik war seltener Glücksfall

Anne Wills Mittwochsrunde zum Thema „Bürgerproteste gegen die Flüchtlingspolitik – Werden sie ernst genug genommen?“ war ein seltener Glücksfall in der Talkshow-Routine der letzten Wochen und Monate. Denn die Debatte offenbarte gleich drei zum Teil überraschende oder unbequeme Wahrheiten in der Flüchtlingsdebatte.

Wahrheit Nummer 1: Durch den Flüchtlingsstrom besorgte und verängstigte Bürger sind nicht gleich Fremdenfeinde. Da wo sie verantwortungsvoll handeln, sind sie sogar auf einer Linie mit den aktiven Helfergruppen – siehe oben. Willkommenskultur und Skepsis – das geht zusammen.

Wahrheit Nummer 2: In dieser Formation, wie das Doppel Greve-Henniges bei „Anne Will“, bilden Helfer und Skeptiker eine wirksame Front gegen die Rechtspopulisten von AfD und Pegida: Selten einmal gab ein hochrangiger AfD-Politiker eine so blasse Figur in einer TV-Runde ab wie am Mittwoch der niedersächsische AfD-Chef Armin Paul Hampel. Jan Greve aus Neugraben-Fischbek ließ sich von Hampels Worthülsen über „Staatsversagen“ und seinen dahingeraunten Andeutungen über Kriminalität unter Flüchtlingen nicht vereinnahmen. Und Diana Henniges konterte mit Berliner Schnauze: „In jedem Bierzelt werde ich mehr angemacht als im Flüchtlingslager.“

Wahrheit Nummer 3: Die Politik ist nicht mehr Herrin des Verfahrens.

Vorsitzender der SPD Berlin gesteht Überforderung der Politik ein

Jan Stöß, der Landesvorsitzende der SPD in Berlin, forderte in der Will-Runde: „Man muss sich ehrlich machen.“ Für Stöß hieß das an diesem Mittwochabend: das Eingeständnis der eigenen Überforderung.

„Jeden Monat kommen 15.000 Flüchtlinge nach Berlin“, bat der SPD-Mann um Verständnis, da könne man halt nichts anderes anbieten als „Großstandorte“. Dem Vorwurf von Diana Henniges, in Berlin gebe es „keine Flüchtlingskrise, sondern eine Verwaltungskrise“, und zwar durch „jahrelange Unterfinanzierung der Behörden“, konnte Stöß nicht entkräften.

So hangelte sich Stöß von Ausrede zu Ausrede, versprach nebulös „Wohnungen in Modularbauweise“ und meinte, mit den menschenunwürdigen Zuständen an der zentralen Berliner Flüchtlingsanlaufstelle Lageso sei auch er selbst „nicht glücklich“.

Anne Will zeigte Politikern ihre Grenzen auf

So viel Verharmlosung holte sogar die Moderatorin aus der professionellen Zurückhaltung. „Das ist ein Signal der Überforderung!“, konterte Anne Will Stöß’ Ausflüchte in Sachen Lageso. Und als der Politiker beschwor, man arbeite ja seit einiger Zeit an einer Verbesserung der Lage, konstatierte Will knapp: „Das sieht aber niemand.“

Überhaupt machte Will eine starke Figur in der Runde. Nicht allein, dass sie Stöß seine Beteuerungen nicht durchgehen ließ – die Gastgeberin zeigte auch dem AfD-Mann Hampel seine Grenzen auf. Hampel, einst Hauptstadtkorrespondent der ARD, versuchte mehrfach, sich an Wills Fragen vorbeizumanövrieren und stattdessen seine Standard-Parolen loszuwerden. Als es wieder einmal soweit war, wies Will ihren verdutzten Gast lässig in die Schranken: „Deshalb unterbreche ich Sie hier an dieser Stelle“ – und wandte sich dem nächsten Gast zu.

So macht man das, Herr Jauch!

Hier gibt es die Sendung in der Mediathek der ARD.