Die Kameras im “Big Brother“-Container gehen wieder an. Karolin Jacquemain über eine Dekade der medialen Selbstentblößung.

Mit Beginn der ersten "Big Brother"-Staffel vor zehn Jahren wurde der Tabubruch im Privatfernsehen zum Dauerzustand. Es folgten Heulkrämpfe bei "Deutschland sucht den Superstar" und Schlammbäder im "Dschungelcamp".

Einer ist immer der Clown. Im 19. Jahrhundert waren es Kleinwüchsige und die berühmte "Dame ohne Unterleib", die dem staunenden zahlenden Publikum auf dem Jahrmarkt vorgeführt wurden. Im Jahr 2000 schalteten viele Millionen Menschen täglich den Fernseher ein, um dem tätowierten Automechaniker Zlatko Trpkovski bei Nasepopeln und Fußnägelschneiden zuzuschauen. Jedes Jahrzehnt hat seine eigene Freakshow.

Zlatko wusste nicht, wer Shakespeare war - wer Zlatko war, wusste dagegen bald jeder in diesem Land. Berühmt wurde der Mann einzig dafür, mit zwölf weiteren Freiwilligen in einem Container in Köln-Hürth zu leben, zu duschen und zu streiten, bis am Ende einer weint. Und ein anderer gewinnt. Er wurde berühmt für eine Selbstverständlichkeit: er selbst zu sein. Einzig mit der Ausnahme, dass die Kameras 24 Stunden liefen. 102 Tage lang schickte RTL 2 die Spanner-Show auf Sendung, im Internet war man live nonstop dabei. "Big Brother" bewies, dass Privatsphäre nichts mehr zählte, Exhibitionismus dagegen zeitgemäß war.

Und wenn am kommenden Montag die zehnte Staffel der Reality-Show startet, ist das vor allem deshalb bemerkenswert, weil mit ihrem Aufkommen ein tief greifender Kulturwandel einherging. Zlatko Trpkovski sollte sein Namensgeber werden. Von einer "Zlatkoisierung des Fernsehens" sprach etwa der ehemalige ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser bei seinem Abschied vom Amt. Gemeint war nichts weniger als eine übergreifende Verdummung der Versuchsobjekte ("dumm herumstehend wie Billigsofas") sowie der Zuschauer. "Arbeitslose spielten Arbeitslose, und Arbeitslose schauten ihnen zu", schrieb die "Zeit" einmal.

"Big Brother" hat vor zehn Jahren eine neue Ära im deutschen Fernsehen eingeläutet - derart laut, dass niemand es überhören konnte. Kirchenvertreter probten den Aufstand, Kulturkritiker prophezeiten angesichts der C-Prominentenschwemme den Untergang des Bildungsfernsehens und der öffentlichen Moral obendrein, mehrere Klagen prasselten auf RTL 2 nieder. Im Kern ging es um die Menschenwürde, beziehungsweise ihre Negation. Darf man Menschen rund um die Uhr einsperren? Beim Pipimachen zusehen? Nachdem sich die Anfangsaufregung gelegt hatte, war klar: Man durfte. Und darf es noch. Mehr noch: Voyeurismus ist längst Fernsehalltag. Auch die öffentlich-rechtlichen Sender versuchten sich im Lauf der Jahre an mehr oder weniger hochwertigen Kopien verschiedener Reality-Shows - die allesamt scheiterten: Ein bisschen schwanger geht eben nicht.

Branchenzyniker Harald Schmidt prägte für die einschlägigen Formate der Privaten 2005 den Begriff des Unterschichtenfernsehens, der auf dem besten Weg war, zum Unwort des Jahres gewählt zu werden. Ein menschenverachtendes Wort für menschenverachtendes Fernsehen. Es war als nette Beleidigung der Konkurrenz gedacht (beleidigte aber eigentlich das Publikum) und kündete davon, das der Trash im Hauptabendprogramm angekommen war. Wenn Schmidt sich mit den Auswüchsen des Unterschichtenfernsehens in der ARD auseinandersetzte, war das zwar ironisch gemeint, bewies aber ebenso seine Ankunft in der Gesellschaftsmitte. Und die der Reizüberflutung durch allgegenwärtige Unterhaltung und Tabubrüche. "Wir amüsieren uns zu Tode", hatte der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman schon vor 25 Jahren geklagt. Er sollte recht behalten.

Mit einem Marktanteil von durchschnittlich 20 Prozent bei den 14- bis 49-jährigen Zuschauern und oft über 40 Prozent bei den 14- bis 29-Jährigen erwies sich die Auftaktstaffel von "Big Brother" als einer der größten Erfolge in der Geschichte von RTL 2. Längst sind die Quoten nicht mehr überragend, aber immer noch über Senderschnitt. Die Container-Insassen sind aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden und führen ein stabiles Nischenleben in ihrem Programm. Doch auf den Nachwuchs ist Verlass. Heidi Klums Topmodels und Dieter Bohlens Superstars sind an ihre Stelle getreten und liegen klar vorn im Quotenwettrennen mit der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz; die Schlagzeilen für die Presse liefern sie gleich mit. Der Auftakt der neuen Staffel von "Deutschland sucht den Superstar" sahen vergangenen Mittwoch 7,37 Millionen Zuschauer - anderthalb Millionen mehr als den kuscheligen ZDF-Serienliebling "Der Bergdoktor".

Geblieben vom Phänomen "Big Brother" ist der Siegeszug der Alltagsgestalten. Die banalen Gewohnheiten fremder Menschen beerben zunehmend die fiktionale Unterhaltung, Laiendarsteller treten an den Platz von Schauspielern - und die niedrigen Kosten sind nur das offensichtlichste Argument für diesen Trend. Es paart sich mit einer unstillbaren (Sehn)Sucht nach dem, was als real vermutet wird. Sicher, die Rahmenbedingungen sämtlicher Reality-Sendungen sind inszeniert, die vermeintlichen Fakten häufig geschummelt. Das Zauberwort des vergangenen Fernsehjahrzehnts hieß dennoch: Authentizität. Nichts war so aufregend wie die Pseudowirklichkeit. "Eigentlich ist Fernsehen ja Geschichtenerzählen", sagt der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma. "Durch die Spannerei ist das völlig verloren gegangen."

Die Kinder von "Big Brother" heißen "Die Auswanderer", "Frauentausch" und "Raus aus den Schulden". Zeitgleich mit der Containershow schwappten die Nachmittags-Talkshows ins Privat-TV - obgleich "Hans Meiser" schon seit 1992 auf Sendung war. Mit einem Mal waren da "Vera am Mittag", "Arabella Kiesbauer" und "Oliver Geissen" und mit ihnen Themen wie "Ich liebe den Vater meiner Freundin". Kevin erzählte stolz, dass er mit Jeanette zusammen war und gleichzeitig Jennifer vögelte. Heute ist die Plauderzunft verwaist, "Britt" ist die letzte werktägliche Talkshow bei Sat.1. Nach so vielen Jahren waren alle Tabus gebrochen und Abgründe ausgelotet, die Peinlichkeitsschwelle ließ sich nicht beliebig weiter nach unten verschieben.

Die "Big Brother"-Idee, Menschen einzusperren, erwies sich dagegen als ausbaufähig: Sat.1 versammelte 2001 in "Girls Camp" zehn Mädchen in einer Villa, die sich von der Nation auf die Brüste glotzen ließen. Erfolgreicher als diese rosafarbene Version von "Big Brother" sollte ab 2004 RTLs "Ich bin ein Star - holt mich hier raus" werden: Junge Menschen, die nach der Aufmerksamkeit des Boulevards gierten (Nico Schwanz), und solche, deren Berufsbezeichnung mit einem "Ex" begann (Schauspielerin und Knast-Insassin Ingrid van Bergen), zogen in den australischen Dschungel, stopften sich mit Kakerlaken voll und übten sich im Schlammcatchen.

Die Formatidee von "Big Brother" stammt aus den Niederlanden, ersonnen hat sie der clevere Produzent John de Mol. Ohne diese Initialzündung gäbe es keine Casting- und Gerichtsshows, keine Dokusoaps und keine Kuppelsendungen wie "Bachelorette" oder "Bauer sucht Frau". Dank de Mol aber gehören Restauranttester, Immobilienfürsten und Supernannys heute zur Grundversorgung der Privatsender, das Ausspähen realer Menschen, die sich den Busen vergrößern, Bier trinken oder "Scheiße" sagen, ist zuerst sende- und dann salonfähig geworden.

"Die Faszination, seine Mitmenschen im Fernsehen bei intimen Verrichtungen zu beobachten, ist dieselbe, mit der jemand aus dem Fenster schaut und darauf wartet, dass etwas passiert", sagt Thoma. Ein menschliches Bedürfnis also. Den Weg zum Fenster kann man sich seit einem Jahrzehnt sparen, die (Nicht-)Ereignisse werden direkt ins Wohnzimmer geliefert und gehen in etwa so: Eine Migrantin aus Kreuzberg übernimmt für zwei Wochen den Familienvorsitz bei einer kinderreichen fränkischen Bauernfamilie, während die Bäuerin ihrerseits in die Berliner Sozialwohnung wechselt: "Frauentausch", der Konfliktstoff birgt.

Die Gebiete, auf denen Feldforschung betrieben wird, sind grenzenlos. Die Geschmacklosigkeitsskala ist theoretisch nach oben offen. Behinderte auf einer einsamen Insel aussetzen? Warum nicht. Den Empfänger einer Spenderniere casten? Bitte schön. Zehn Menschen mit neun Fallschirmen in ein brennendes Flugzeug stecken? Keine Idee, die zu absurd wäre, als dass sie nicht ihre Anhänger fände. In gleichem Maße, in dem die Popularität des Genres zunimmt, wächst auch die Bereitschaft zur freiwilligen Selbstentblößung. Über 580 000 Menschen haben sich in den letzten zehn Jahren für "Big Brother" beworben, rund 130 durften mitmachen. "Unsere Kandidaten sind so vielfältig wie das Leben selbst", beschreibt es RTL-2-Sprecherin Susanne Raidt, die Show sei folglich "ein Abbild des täglichen Lebens".

Vor allem aber ist "Big Brother" eine Metapher geworden für allgegenwärtige Öffentlichkeit. 24-Stunden-Überwachung im Fernsehen ist nicht mehr Science-Fiction, sondern Alltag. "Als Symbol für permanente Überwachung und Allgegenwart der Medien hat 'Big Brother' den Status der Allgemeingültigkeit erreicht, wie ihn sich wohl nicht mal der Romanautor George Orwell einst erträumte", schreibt der "Spiegel" in seiner aktuellen Ausgabe. Internetnetzwerke wie Facebook und Twitter, Handykameras und Leserreporter und das Videoportal YouTube sind nur die logische gesellschaftliche Weiterentwicklung des Reality-Fernsehens.

Dessen Versprechen bestand hauptsächlich darin, dass jeder ein Star werden konnte, wenigstens für ein paar Wochen. Was Zlatko kann, so die Logik, kann schließlich jeder. Die Faszination von "Deutschland sucht den Superstar", sagt Ex-RTL-Boss Thoma, bestehe darin, "Mitmenschen vorzuführen in ihrer ganzen Jämmerlichkeit, garniert mit großartigen Sprüchen von Bohlen". Einzig mit dem Ziel, dass sich der Zuschauer mit Wilhelm Buschs "frommer Helene" sagen könnte: "Ei, ja! Da bin ich wirklich froh! Denn - Gott sei Dank! Ich bin nicht so!"

Kein Zuschauer vor dem Bildschirm, der sich Zlatko nicht überlegen fühlte, diesem drolligsten aller Tiere im Menschenzoo. Längst ist er vergessen, nach einer kurzen Sängerkarriere und einer noch kürzeren als Talkmaster von "Zlatkos Welt", in sein überschaubares Automechanikerimperium zurückgekehrt. Die Show geht ohne ihn weiter. Von Montag an müssen seine Epigonen den Beweis antreten, dass öffentliches Fußnägelschneiden ordentliche Quote haben kann.