Das Hurricane-Festival ist mehr als ein dreitägiger Rock-Marathon mit Menschen, Bier und Sensationen. Es ist ein soziales Netzwerk.

Scheeßel. Dunkelheit kriecht über das Gelände des Hurricane-Festivals in Scheeßel. Beth Gibbons krallt ihre Hände um das Mikrofon und singt "I Can't Hold This Day. Anymore." Sie singt von der Ungewissheit, die sie übermannt. Mit geschlossenen Augen wirkt die Portishead-Sängerin so nach innen gekehrt, dass die Massen vor der großen Bühne kollektiv erstarren. "Ich habe ein paar Regentropfen abgekriegt", sagt eine junge Frau. "Das waren die Tränen von Beth Gibbons", erklärt der Mann neben ihr. Und wirklich rollt der Sängerin, die wie immer ungeschminkt in T-Shirt und Jeans einfach ihrer Kunst Raum gibt, eine Träne über die Wange. Schnell dreht sie sich weg. Ein großer, aufrichtiger Moment der Innerlichkeit. Ergreifend und pur.

Da lauscht selbst der junge Typ andächtig, der mit Kugelschreiber in fetten Lettern "Bockwurst-Party" auf seinen Arm geschrieben hat. Botschaften auf nackter Haut, auf Kleidung und Schildern waren in Mode bei der 15. Ausgabe dieses gigantischen norddeutschen Open Airs. Wenn alle Freunde ohnehin drei Tage lang um einen herum leben und feiern, dann veröffentlicht man seine Statusmeldungen, die sonst im Internet auf Facebook notiert werden, eben direkt am eigenen Körper. "Willst Du meine Festival-Freundin sein?", fragt ein Junge auf seinem T-Shirt. "Ich bin hier" ist auf einer hochgehaltenen Pappe zu lesen. Das Festival wird zum sozialen Netzwerk.

+++Der Festival-Blog zum Hurricane 2011+++

Bei diesem ganzen großen Spektakel des Rock und Pop gehört es dazu, sich nach außen zu wenden, sich zu zeigen, exaltiert zu sein, ein Image zu präsentieren. Die Künstler sind Profis darin. Die Fans üben sich spielerisch. Ob als Kakerlake oder Krokodil verkleidet, ob mit 80er-Jahre-Perücken auf dem Kopf oder Gummistiefeln im Pop-Art-Print an den Füßen, ob mit blauen Punkten auf der Nase oder goldenem Glitter unter den Augen. Cool setzen sie sich für das nächste Foto in Szene oder halten lächelnd den Gefällt-mir-Daumen in ihre Kameras. Alles muss hinaus in die Welt, alles muss gesendet werden. Jeder ist seine eigene Nachricht. Und das Festival, dieses Paralleluniversum, ist der Empfänger.

Zahlreiche Bands bedienen diesen Impuls beim Hurricane. Die alten Hardrock-Haudegen von Monster Magnet oder die Kaiser Chiefs aus Leeds mit ihrem euphorischen Rock liefern den Soundtrack zu dem Trieb, alles raus lassen zu wollen und sich beim Tanzen in jede noch so verrückte Pose zu werfen. Die gymnastischsten kommen wohl von Ed Macfarlane, Sänger der Friendly Fires, der zum Dance-Punk seiner Band mit eigenwilligen Einlagen zum nachmittäglichen Aerobic animiert. Oder auch von Gogol Bordello. Das Gypsy-Punk-Ensemble lädt zur gut gelaunten Hochzeitspolka-Sause. Und verleitet zu Polonaise und Ringelreihen in der Abendsonne. Einer, der "Sexsymbol" auf seiner Wange stehen hat, grinst zufrieden. Paare knutschen eng umschlungen, hemmungslos. Das Private, es drängt nach draußen. Das Glück liegt auf dem Platz. Und der ist getränkt mit Endorphinen. Viele hüpfen. Mit den Füßen. Und mit den Herzen.

+++Eine fiktive Postkarte vom Hurricane+++

Und die Herzen, sie werden auch immer wieder von Händen in der Luft geformt. Zeichen, die eine einfache, schöne Sprache sprechen. Wie auch die unzähligen Armpaare, die sich den Bands entgegenrecken und von einer allgemeinen Verbundenheit erzählen. Alle wollen in Kontakt sein. Auf dem Arm einer Besucherin steht "Free Hugs" ("Umarmung frei"). Ein Besucher, der Spuren hinterlassen will, stempelt kurzerhand jeden, der ihm begegnet, mit einem schwarzen Kreuz ab. Dieses Lebensgefühl, ständig seine Marke setzen zu wollen, ständig auf Sendung zu sein, nutzen die Sponsoren aus und schicken auffällig viele Werbebotschaften zwischen den Shows über die Leinwände. Menschen, Biere, Sensationen. Ein Dauerrauschen, das bald niemand mehr bewusst wahrnimmt.

Wirkliche Aufmerksamkeit erzeugen hingegen die Akrobaten im weißen Zelt. Ein Mann im schwarzen Mantel lässt zu lautem Techno-Sound Fässer rotieren, vier Jungs tanzen kunstvoll Breakdance. Der gute alte Zirkus, er wurde neu erfunden für die Manege des Pop. Und da stehen und staunen die Festivalgänger dann wie die Kinder. Und all das Posen und Posten und Präsentieren ist plötzlich vergessen.

Dass die Grenzen zwischen innen und außen verwischen, kann bei einem Festival mehrere Gründe haben. Oft ist es der Regen - wie am Sonntag. Bei vielen auch der Alkohol. Aber immer ist es die Musik, diese Zaubermaschine.

Besonders wertvoll sind die Momente, in denen die Lieder das Kunststück vollbringen, all das nach außen Gerichtete, die Fassaden, Hüllen und Mauern zu durchbrechen, bis ins Innerste vorzudringen und tief, sehr tief zu berühren. Künstler wie I Am Kloot, Bright Eyes und William Fitzsimmons schaffen das. Und die ersten unter diesen Magiern sind derzeit Arcade Fire. Die achtköpfige Indierock-Band aus Montreal reißt das Auditorium mit in einen Strudel der Emotionen. Weil sich jeder in Jugenderinnerungen, Alltagsgeschichten und Liebesdesastern wiederfindet. Weil die Kanadier auf der Bühne eine kollektive Spielfreude entfesseln und Win Butler einfach herzzerreißend singt. Er ist der Vordenker dieser wichtigsten Band der Nuller-Jahre. Der Auftritt von Arcade Fire ist eine Offenbarung, weil die Songs den Körper elektrisieren und den Verstand fordern. Und weil die Band die Musik mit einer artifiziellen Multimediashow um eine visuelle Ebene überhöht, ohne sie zu übermalen.

Anders als diese Überband sucht Elbow-Sänger Guy Garvey Zugang zu seinen Fans, indem er mit launigen Festival-Ansagen die Balance zwischen der intimen Melancholie seiner Musik und dem gemeinsamen Erleben herstellt. Oder sich einfach mal von einem Fan knuddeln lässt. Ein Lied kann eine Brücke sein. Und weiter hinten läuft da ein Mensch über das Feld, der trägt ein kleines Kinderzelt in Rosa und Gelb über dem Kopf. Er ist in der Menge und doch für sich allein. Er ist innen und außen.