Massen im Dauerregen: Wo ist da der Reiz? In einer fiktiven Postkarte vom Hurricane-Festival erklärt Alexander Josefowicz seiner Familie, warum er wieder dabei war

Liebe Mama, lieber Papa!

Das Wetter ist grad totaler Mist, die nächste tolle Band spielt auch erst in 'ner Weile. Der Rest der Bande ist noch nicht wach. Ich habe also ein bisschen Zeit. Und da dachte ich mir: Schreib mal wieder!

Ihr habt mich mal gefragt, was ich eigentlich an diesen Festivals finde. Warum ich über modderige Stoppeläcker wandere, Rudelduschen und Mobiltoiletten in Kauf nehme und mit Zehntausenden Bekannten und völlig Fremden zu brülllauter Musik feiere.

Warum also? Es macht einen Heidenspaß. Denn der Alltag bleibt für ein Wochenende draußen, die Karten werden neu gemischt, Prioritäten neu verteilt. An die Stelle von Hausaufgaben, Seminararbeiten oder Projektplänen treten Lieblingsbands, alte und neue Freunde. Welche der 80 Bands spielt wann, schaffen wir es rechtzeitig von Monster Magnet zu Friendly Fires, und wer ist eigentlich diese wunderschöne Frau da drüben? Wenn es gut läuft, ist ein Festival für uns das, was für Euch Theaterbesuch, große Geburtstagsfeier und ein klassisches Konzert sind. Bloß nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Dazu gehört auch das Campen. Wenn man spätnachts in seinen Schlafsack kriecht und morgens aus viel zu kleinen Augen durch den Reißverschluss linst, um herauszubekommen, ob die kurze Hose ausreicht; dann weiß man mit Sicherheit, dass irgendwas anders ist als sonst. Anders leben fühlt sich einfach gut an.

Und ja, wir trinken Alkohol. Bier ist auch Frühstück, das lernt man in Scheeßel als Erstes - und das kann sehr, sehr lustig sein.

Was wäre das Leben ohne ein bisschen Exzess? Aber wir passen aufeinander auf. Sicher, es gibt Leute, die das nicht tun, die nervtötend und aggressiv sind. Na ja. Idioten gibt es überall.

Vielleicht stellt Ihr Euch Scheeßel vor wie ein zweites Woodstock, das kann ich leider nicht beurteilen. Ich weiß nur eins: So ein Festival ist echt kein Paradies.

Es gibt Staub und Matsch allerorten, die Schlangen vor dem Klo und der Dusche sind kleine Strapazen, Teil des Pakets. Aber die eine oder andere Einschränkung nimmt man gern in Kauf, wenn man dafür ein Gemeinschaftserlebnis mit Musik bekommt. Und wenn die Ordner dafür sorgen, dass die volltrunkene Pappnase weder sich noch andere in Gefahr bringt.

Könnt Ihr Euch vorstellen, was das für ein Gefühl ist, inmitten von Zehntausenden Menschen zu stehen und einfach glücklich zu sein, weil Arcade Fire so unglaublich toll ist, dass man schreien möchte; wenn man nach dem Frittenbude-Konzert völlig nass geschwitzt und verbeult aus dem großen Zelt torkelt; wenn bei Incubus der Mond über der Hauptbühne steht?

Dann ist gestern Vergangenheit und morgen noch Zukunft. Dann leben wir in der Gegenwart.

Na klar ist das unrealistisch, ohne Perspektive. Das ist ein offenes Geheimnis, das wir alle teilen. Und gerade weil wir wissen, dass am Montag das ganz normale Leben weitergeht, macht es umso mehr Spaß, für drei Tage so zu tun, als ob es keine Zeugnisse, Diplomprüfungen und nervige Kollegen gäbe.

In Scheeßel und Roskilde, in Wacken und am Nürburgring spielen wir alle eine Rolle. Aber die spielen wir so gut, dass wir uns gegenseitig applaudieren und uns auf die Zugabe freuen.

So, der Regen hat nachgelassen, im Zelt nebenan sucht jemand seine Zahnpasta, und wenn ich nicht in zehn Minuten an der Red Stage bin, verpasse ich Darwin Deez.

Mir geht's hervorragend, macht Euch keine Sorgen!

Viele liebe Grüße auch an Omi und Onkel Hansi,

Euer Josi

Alexander Josefowicz, 32, ist Reporter im Kulturressort beim Hamburger Abendblatt.