Hamburg. Jedes Haus hat eine Geschichte, und es muss nicht mal besonders alt sein, um Wildes, Verwegenes, Trauriges oder Lustiges zu erzählen. Wobei die Häuser auf St. Pauli nicht selten mehr Unterhaltung bieten als eine Wohnung in Poppenbüttel – wenn es nicht die ist, in der sich einst RAF-Terroristen versteckten.
Aber nehmen wir mal das Gruenspan in der Großen Freiheit: 1889 begann der heutige Livemusik-Club als Tanzpalast und wurde über die Jahrzehnte zur Pferdearena, Kino, Badeanstalt, erneut Tanzpalast und Kino und 1968 zur Disco.
So erzählt es auch ein Link, den man über einen am Gruenspan angebrachten kleinen QR-Code erreicht. Ein kleines Detail des Fotoprojekts Soul Pauli – the Corona friendly Exhibition des Hamburger Fotografen und freiberuflichen Creative Directors Christian Heidemann. In den letzten zwei Jahren hat er 36 Gebäude auf dem Kiez fotografiert, ihre Geschichten recherchiert und den interaktiven „Soul Pauli“-Rundgang angelegt.
In Rosi’s Bar wurde die Idee zu „Soul Pauli“ geboren
Mit dabei sind Clubs wie Gruenspan, Molotow oder Angel Klub, viele Bars und Kneipen, aber auch unbekanntere Kleinodien wie der 2017 geschlossene Modellbauladen Rettkowsky am Paulinenplatz. Nicht zu vergessen Rosi’s Bar, wo alles begann.
„Eines Tages, als ich Rosi’s Bar fotografiert habe, lernte ich Rosi kennen. Sie nahm sich eine Menge Zeit und erzählte mir, wie sie auf St. Pauli aufgewachsen ist, gearbeitet hat, ihren früheren Ehemann Tony Sheridan McGinnity kennengelernt hat, wie sie und er mit ein paar jungen Männern aus Liverpool – den Beatles – über den Kiez gezogen sind, wie sie die Kneipe ihres Vaters übernommen hat, mit den Beatles in einer WG gewohnt hat und, und, und. In dem Moment wurde mir klar, dass ich die Menschen hinter den Fassaden treffen möchte, um nicht nur die Bilder der Gebäude, sondern auch die Geschichten hinter den Fassaden festzuhalten“, erzählt Christian Heidemann, der in Münster geboren wurde und vor zwölf Jahren auf St. Pauli aufschlug und blieb.
„Ich muss mit der Kamera nur vor die Tür gehen und kann losfotografieren. Zudem ist St. Pauli für mich ein interessanter Ort, an dem die unterschiedlichsten Lebenskonzepte auf kleinem Raum zu finden sind. Und diese Unterschiedlichkeit überträgt sich auch auf die Gebäude.“
Heidemann dokumentiert eine Zeit der Krise
Sein Rundgang, den man sowohl draußen auf St. Pauli als auch zu Hause auf dem Sofa kostenlos erleben kann, trägt nicht von ungefähr den Beinamen „the Corona friendly Exhibition“. Die Bilder, die er im vergangenen Herbst auch im Sankt Pauli Museum ausstellte, sind Dokumente einer Zeit der Krise.
Die Probleme wie Verdrängung und Übertourismus, die das Viertel seit langer Zeit begleiten, sind in den Hintergrund geraten durch die Pandemie und die Nöte, die dadurch in diesem Mikrokosmos aus Wohnen und Arbeiten, Kunst und Kultur, Gastronomie und Unterhaltung auf engstem Raum potenziert werden.
„In Zeiten, in denen aufgrund der Corona-Pandemie in vielen Läden die Lichter ausgehen, geht es in meinen Augen erst mal darum, diese Krise zu überstehen in der Hoffnung, dass die Lichter wieder angehen“, sagt Heidemann.
Angebot kostenlos, Spenden für „Hinz&Kunzt“ willkommen
Auch wenn Heidemann bereits ein Kiezgewächs geworden ist und mit vielen Wirtinnen, Koberern und anderen Tagfaltern und Nachteulen bekannt, konnte er durch sein Projekt noch viel über das Quartier lernen, zum Beispiel über die Herkunft der Sichtblenden in der Herbertstraße, die in der Nazizeit angebracht wurden, aber das Areal dadurch nur noch interessanter machten. „Teilweise sind die Geschichten zu einigen Gebäuden jedoch auch nur ganz kurz und knapp, in meinen Augen dennoch in irgendeiner Form besonders. Wie zum Beispiel ein vollgesprühter Schuh- und Schlüsseldienst. Das ist St. Paulis Patina.“
Geld verdienen will Heidemann mit seinem Freizeit-Projekt nicht. Er sieht es als kleinen Beitrag zu dem kulturellen Universalangebot, das St. Pauli derzeit nicht ausspielen darf. Stattdessen ruft er mit „Soul Pauli“ auch zu Spenden für das Obdachlosen-Magazin „Hinz&Kunzt“ auf: „Ich persönlich genieße es, bei Wind und Wetter draußen zu sein, jedoch auch nur, weil ich danach in meiner muckeligen Wohnung hocken kann“, und zu viele Menschen in Hamburg können das nicht.
Über den Lockdown hinaus soll das Projekt weiterwachsen: „Die Theaterkultur fehlt noch. Daran arbeite ich jedoch aktuell und schreibe die Geschichte zu einem Theater und bearbeite das Bild dazu. Ansonsten ist die Liste an Orten, die ich fotografieren möchte, noch lang.“ Es gibt noch viele Geschichten hinter den Fassaden zu sammeln, und auch bei den bisher besuchten Clubs, Lädchen und Plätzen werden neue dazukommen.
Daten zum Stadtteil St. Pauli (Stand 31.12.2018):
- Mit 22.436 Einwohnern liegt St. Pauli auf Platz 35 der insgesamt 105 Hamburger Stadtteile
- Der Stadtteil St. Pauli erstreckt sich über eine Fläche von 2,2 Quadratkilometern
- Der Ausländeranteil beträgt 21,3 Prozent (Hamburger Durchschnitt: 17,3 Prozent)
- Auf St. Pauli gibt es 1283 Wohngebäude mit insgesamt 12.507 Wohnungen
- 13,2 Prozent sind Sozialwohnungen
- Mit 69,3 Prozent liegt der Anteil der Einpersonenhaushalte über dem Hamburger Durchschnitt (54,5 Prozent)
- Der durchschnittliche Grundstückspreis beträgt auf St. Pauli 1488 Euro pro Quadratmeter
- Der durchschnittliche Preis für Eigentumswohnungen beträgt 5808 Euro pro Quadratmeter
- Die durchschnittliche Wohnungsgröße auf St. Pauli beträgt 64,3 Quadratmeter
- Die Arbeitslosenquote auf St. Pauli liegt bei 6,8 Prozent
- Auf St. Pauli gibt es eine Grundschule sowie 18 Kindergärten
- Auf St. Pauli gibt es 41 niedergelassene Ärzte und sieben Apotheken
- Auf 1000 Einwohner kommen auf St. Pauli 195 private Pkw (davon 20 Elektro-Pkw)
„Soul Pauli – the Corona friendly Exhibition“ www.soul-pauli.de
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