Mit Telemanns “Flavius Bertaridus“ richten Jens-Daniel Herzog und Alessandro De Marchi einen äußerst kurzweiligen Opernabend ein.

Hamburg. Ab jetzt werden die Langobarden weniger glamourös regiert, so viel steht schon mal fest. Auf drögen Konferenztischen wartet Mineralwasser statt Champagner, der innere Zirkel der Macht trägt anstelle prächtiger Fantasieuniformen den grauen Zwirn höherer Verwaltungsbeamter. Flavius hat den Tyrannen Grimoaldus ermordet, der ihn zehn Jahre lang in Verbannung gehalten hatte, und mit ihm fast das ganze Potentatenregime hinweggefegt. Nur der opportunistische General Orontes, nun in Zivil, hat es an die pragmatisch langweilige Regierungstafel von Flavius geschafft.

+++Gelungene Premiere an der Staatsoper+++

Doch was ist das? Mitten hinein in den Schlusschor der neuen Mächtigen zu festlichem Trompetenschall springt "Ick bün all dor"-mäßig und quicklebendig wieder dieser Grimoaldus mit den drei Callgirls, die ihn so nett rundum bedient hatten, solange er noch Herrscher und am Leben war. Der Schoß ist fruchtbar noch, sagt diese letzte der vielen guten Theater-Pointen des Regisseurs Jens-Daniel Herzog. Nach der Tyrannei ist vor der Tyrannei.

Herzog hat die Oper "Flavius Bertaridus, König der Langobarden" von Georg Philipp Telemann, die 1729 an der damaligen Oper am Gänsemarkt ihre Uraufführung erlebte, nach Jahrhunderten des Vergessens für die Hamburgische Staatsoper neu inszeniert. Im Sommer wurde sie bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik erstmals gezeigt, weil der bei vielen neueren Hamburger Barockopern-Produktionen bestens bewährte musikalische Leiter Alessandro De Marchi seit 2010 auch Intendant in Innsbruck ist. Schon die Innsbrucker Fassung musste gegenüber dem Original Striche erdulden. Was dort noch fünf Stunden dauern durfte, wurde für Hamburg nun auf dreieinhalb Stunden samt Pause eingedampft. Sie vergehen wie im Flug.

+++Maite Beaumont: Die klingende Sonne Spaniens+++

Der Orchestergraben ist so weit erhoben, dass der lange Hals der Theorbe, einer Barocklaute, fast ins Bühnenbild hineinragt. Stört überhaupt nicht, denn was De Marchi mit seiner graziös-reduzierten Zeichengebung aus den Philharmonikern (als Konzertmeisterin vorzüglich: Monika Bruggaier) und ein paar Gästen an Cembalo, Theorbe, Gambe, Barockharfe, Flöte und Orgel an klanglichen Finessen herausholt, ist fantastisch.

Wie im Programmheft zu lesen steht, hat De Marchi Telemanns Partitur "als Skizze verstanden, als Gerüst" und dem "Urtext Farben und Leben hinzugegeben". Seine Fassung im Stil der Zeit gibt der Aufführung Spannung und Seele, und die engagierte, durchweg atmende Spielweise der Musiker verwandelt selbst die oft haarsträubend geknittelten Arienverse, die gern ein Dutzend Mal wiederholt werden, beinahe in reine Kurzweil.

Das geteilte Continuo - ein Cembalo spielt De Marchi selbst - begleitet die Rezitative innig musikalisch, und Christian Kunert (Fagott), Thomas Tyllack (Cello) oder die Flötistin Anke Braun und ihr Kollege Hartmut Lederboer liefern ihre Solo-Gegenstimmen zu den Arien so differenziert und sinnlich, dass einem das Herz aufgeht.

Mit hinreißendem Grimm wirft sich Maite Beaumont in die Rolle des Rückkehrers Flavius, der Frau und Kind nicht mehr erkennt, die sich aus Grimoaldus' jahrelanger Kerkerhaft befreit haben. Sohn Cunibert (Katerina Tretyakova) sieht seinen Vater überhaupt zum ersten Mal, die bittere Fremdheit zwischen Flavius und seiner Rodelinda (Tatiana Lisnic) nach Verbannung und Gefangenschaft inszeniert Herzog überaus glaubwürdig. Die beiden singen sehr schön, doch vor dem begnadet tonsicheren, in jedem Tempo rhythmisch sattelfesten Flavius der Maite Beaumont hätte sich die Hofgesellschaft des Grimoaldus besser in Sicherheit bringen sollen. So viel klangschöne Power bei so viel Beweglichkeit war hier lange nicht auf der Bühne.

Antonio Abetes Deutsch ist leider schwach ("Gäggastant" soll Gegenstand heißen, "Lipp" Lieb'), und um als Grimoaldus seinen Bass ins halbwegs Elastische zu lockern, brauchte er bis zu seiner hübsch närrisch als Katz-und-Maus-Spiel inszenierten Liebeswinsel-Arie. Der Countertenor David DQ Lee, der mit viel Witz den Flavius-Vertrauten Onolfus gibt, sang in der Höhe manchmal unschön spitz, aber seine Stimmfarbe passt ideal zu der Figur.

Flavius' Schwester Flavia, die unglückliche Ehefrau des Grimoaldus, zeichnet Ann-Beth Solvang als eine Frau, die gelernt hat, unter der Ehediktatur des Tyrannen das bisschen Macht zu halten, das der Status als Königin ihr verleiht. Dass Sohn Regimbert (Mélissa Petit) so schrecklich verkorkst ist, ist aber auch ihre Schuld. Wie eine dieser verdrucksten Figuren von Manfred Deix oder Haderer steht dieser Regimbert in seinem Pullunder da, mit ewig hängendem Kopf, ein depressiver Klemmi zum Gotterbarmen. Ganz am Ende seiner ansonsten stummen Rolle singt er ein anrührendes Lied.

Dass Ann-Beth Solvangs Sopran locker auch für Wagner-Rollen reicht, ist unüberhörbar. Ihr Schwirr- und Dröhnvermögen bleibt unterschwellig präsent, umso mehr überrascht sie mit Zwischentönen, die sich wunderbar ins Sängerensemble einfügen. Dem Werben des Orontes widersteht sie hinhaltend in einer entzückenden Szene, in der zwei Damen der Gesellschaft nebenan ein Näschen ziehen und zwei Kavaliere den überschüssig zugeführten Champagner mit knapper Not oral oder auf herkömmlichem Weg wieder loswerden. Ließ schon das raffiniert einfache, vielgestaltige Räume zulassende Bühnenbild (auch Kostüme: Mathis Neidhardt) mit verschiebbaren Wänden an die trüb beleuchteten Hallen Anna Viebrocks denken, riefen Szenen wie diese mit ihrem feinen Theaterwitz auch die Erinnerung an Regiearbeiten Christoph Marthalers wach.

Nachdem die Staatsoper ihren Saisonstart vor fünf Wochen mit dem "Don Giovanni" von Doris Dörrie gründlich in den Sand gesetzt hat, gibt der "Flavius" nun umso mehr Grund zur Freude. Telemann, Gänsemarkt, Barockoper, alles lange her? Gerne in die Ferne schweifen, wenn dort Gutes liegt so nah.