Ulrich Waller inszeniert glänzend das Musical “Anatevka“ am St.-Pauli-Theater - mit mitreißendem Broadway-Tempo und großen Gefühlen.

Hamburg. Nur wenige Theaterabende lassen ihre Zuschauer das Glücksgefühl der Vollkommenheit erleben. Seit Sonnabend gehört "Anatevka" dazu, die neue Musical-Inszenierung im St.-Pauli-Theater. Das amerikanische Original "Fiddler On The Roof" nach den Geschichten des jiddischen Erfolgsautors Sholem Leichem und mit der klezmergetränkten Musik von Jerry Bock durchbrach am Broadway in den 60er-Jahren als erstes Musical die Marke von 3000 Vorstellungen. Nach Hamburg, und damit ins Deutschland nach Auschwitz, kam die Geschichte der traditionsbewussten Juden im russischen Dörfchen Anatevka erstmals 1968. Kurt Collien, der Großvater von St.-Pauli-Theaterchef Thomas Collien, hatte es damals geholt, und dazu die unvergessene Tevje-Ikone Shmuel Rodensky.

Das Stück bringt mitreißendes Broadway-Tempo, große Gefühle, zündende Musik und absolute Pointensicherheit mit; das alles muss jede Neuinszenierung erst mal hinbekommen. Regisseur Ulrich Waller schafft das großartig - durch kluge Zurückhaltung einerseits, eine gute Hand bei der Besetzung und gute Personenführung.

Das Ensemble (immerhin 17 Darsteller) ist bis in die Nebenrollen hin typgenau und auf Augenhöhe miteinander ausgewählt. Die Kostüme (Marie-Theres Cramer) sorgen für unübertriebenen Realismus vor dem gezeichneten Bühnenbild (Götz Loepelmann).

Waller stellt die kleine Welt von Anatevka im Jahr 1905 und die Geschichte der rassistischen Gewalt und Vertreibung seiner jüdischen Bewohner eher unsentimental, fast sachlich auf die Bühne, was Dialoge und Musik umso stärker wirken lässt. Auf das Jiddische wurde weitgehend verzichtet; die Sprache blieb norddeutsch. Und das Spiel kommt - wenn Tevjes drei Töchter sich über die Heiratsvermittlerin lustig machen oder in der Bettszene, in der Tevje seiner Frau den ungeplanten Ehemann seiner ältesten Tochter beibringt - so lebhaft und urkomisch daher, dass hin und wieder die Assoziation "allerbestes Ohnsorg-Theater" aufblitzt. Dass Waller die ernsteren Töne beherrscht, versteht sich von selbst. Über die optischen Zitate, den Wachtmeister beim brutalen Gewalteinbruch in die Hochzeitsfeier als "Untergang"-Führer mit hochgeschlagenem Mantelkragen zu zeigen oder später den Revolutionär Perschik filmisch leninhaft zu überhöhen, könnte man streiten, wäre der Rest nicht ausdrücklich gelungen.

Alle kann man gar nicht loben, aber wo soll man anfangen? Bleiben wir bei Tevjes Familie. Bei den drei Töchtern und ihrem Bräutigam-Trio (Mark Weigel, Marion Ramos und Tim Reingruber): Anneke Schwabe (Zeitel, die den armen Schneider dem reichen Schlachter vorzieht), Marina Lubrich (Hodel, die den Revolutionär liebt) und Chava, die den größten Tabubruch wagt: einen Christen zu heiraten. Alle drei setzen ihren eigenen Kopf gegen Vater und Tradition durch.

Oder Tevjes Frau Golde. Adriana Altaras zuzusehen, wie sie keift, im Hintergrund Fäden zieht und sich beinahe zufällig ihre Liebe zu Tevje eingesteht - das ist ganz großes Theater; bei ihrem Spiel weht ein Hauch Erinnerung an die große Ida Ehre durch den Saal. Altaras, aus jüdischer Familie, war auch das "jüdische Gewissen" der Produktion. Ihr Urteil war letzte Instanz, wenn es darum ging, jüdisches Leben und jüdische Rituale auf die Bühne zu bringen.

Matthias Stötzel hat die anrührende und mitreißende Musik brillant arrangiert, und der wunderbare Geigenton von Dana Anka wurde rasch so etwas wie die Seele von "Anatevka".

Die Rolle seines Lebens aber hat Gustav Peter Wöhler gefunden. Als Tevje kann er alle seine Qualitäten als Sänger und als Charakterdarsteller ausspielen - nicht nur die komischen, sondern auch die verletzlichen, die berührbaren Seiten seiner Persönlichkeit. Er hat ganz selbstverständlich den listigen Mutterwitz des philosophischen Milchmannes, der gern mit seinem Gott hadert, wenn er zugunsten der neuen Zeiten wieder mal ein Stück Tradition opfern muss. Und auch Tevjes feinen Sinn für das menschlich Richtige. Jenseits des Premierenfiebers findet Wöhler sicher auch noch die winzige Spur mehr Gelassenheit, die die tiefsitzende gottergebene Melancholie des armen jüdischen Milchmanns noch besser zur Geltung bringen würde. Noch viele Jahre möchte man ihn in dieser Rolle sehen.

Diese "Anatevka" ist eine kleine, anrührende, lehrreiche Theatersensation; man sollte Schulklassen hineinschicken. Und wer sie fahrlässig versäumt, muss meschugge sein.

Nächste Vorstellungen: 6. bis 10. April, jeweils 20 Uhr (sonntags 19 Uhr). Karten (17,70 bis 61,70) über die Abendblatt-Ticket-Hotline 040/30 30 98 98