Zehn Jahre später: Das Theaterstück “Falling Man“ nach der berühmten Buchvorlage über die Folgen von Nine Eleven eröffnet die Lessingtage.

Hamburg. Ein Mann geht durch eine Straße, die keine mehr ist. Sein Anzug ist mit Staub bedeckt, er blutet, Glassplitter glitzern in seinen Haaren. Er ist entkommen. Geflohen durch das Treppenhaus, 400 Meter, einfach hinab, die Luft voller Panik, sie pumpt sich in seine Lungen. Dann steht Keith auf der Straße, in der Hand eine Aktentasche, die nicht ihm gehört, er hat sie einfach gegriffen. Und dann läuft er los. In seinem Rücken fallen die Türme.

So beginnt der Roman "Falling Man" von Don DeLillo, er handelt vom 11. September 2001. DeLillo beschreibt darin das Schicksal eines Paars, das an der Verarbeitung der Eindrücke scheitert - "der fallende Mann", das ist der, der uns selbst auch heute noch in Erinnerung ist. Weil er sich aus einem der Türme des World Trade Centers stürzte, während beide schon brannten.

Nun hat die Regisseurin Sandra Strunz diesen Stoff für das Thalia in der Gaußstraße dramatisiert, es ist der Auftakt der diesjährigen Lessingtage. Eine Uraufführung als Herausforderung. Um Frieden auf der Welt ging es schließlich auch Lessing, Nine Eleven , das bildstärkste Ereignis des noch jungen Jahrtausends, spaltete sie. Es herrscht Krieg im Irak und in Afghanistan - auch dies im Übrigen ein immer beliebteres Sujet auf deutschen Bühnen.

Nie hat der Anschlag auf das World Trade Center jedoch einer Dramatisierung bedurft, dafür sorgt schon die multimediale Aufarbeitung der Bilder seit deren Entstehen. Auf Videoeinspielungen der Ereignisse, das gleich vorab, hat Sandra Strunz verzichtet. Die Bilder hat ohnehin jeder Zuschauer im Kopf. "Die Bühne stellt einen Erinnerungsraum dar, mit einer Welt darüber", erklärt die Regisseurin, deren Karriere in den 90er-Jahren in Hamburg begann, wo sie Regie an der Hochschule der Künste studierte. Inzwischen lebt die 42-Jährige in Zürich. Acht Jahre nach ihrer Inszenierung von Ibsens "Hedda Gabler" am Deutschen Schauspielhaus kehrt sie nun nach Hamburg zurück.

Strunz interpretiert DeLillos Roman als Beispiel, wie die Traumatisierung der Figuren zu einem Verlust der Identität führt. Religiöse Fragen interessieren sie nicht. Parallel zu Keith, der durch die Ereignisse aus der Bahn geworfen wird und nicht in der Lage ist, über seine Rettung zu sprechen, nehmen Gespräche über den Alzheimer-kranken Vater von Keith' Ex-Frau Lianne viel Raum im Roman und auch in Strunz' Stück ein. "Es ist für mich kein Zufall", sagt die Regisseurin, "dass DeLillo dieses Alzheimer-Thema einbaut. Den Verlust von persönlicher Identität setzt er in Beziehung zum Untergang einer Weltmacht. Die Figuren lösen sich bei ihm auf und das Gleiche passiert mit den Vereinigten Staaten. Der Einsturz der Türme ist letztlich Symbol für den Absturz Amerikas. Insofern ist dieser Roman sehr viel politischer, als man im ersten Moment denken würde."

In diesem Erinnerungsraum, in dem Strunz "Falling Man" spielen lässt, befinden sich außer Keith und Lianne noch Florence, ebenfalls eine Überlebende des 11. September, Keith' Freund und Kollege Rumsey sowie Martin und Nina. Dieses linksintellektuelle Paar - er Europäer, sie Amerikanerin - nimmt eine Meta-Ebene ein, diskutiert und reflektiert die Weltlage, streitet darüber, ob der Anschlag politisch oder religiös motiviert war. Ihre Beziehung scheitert letztlich, weil der Fremde einen fragenden und kritischen Blick auf Amerika bewirkt. Für diese Haltung wird er in den USA nach den Worten von Sandra Strunz "geschlachtet".

Innerhalb der achtwöchigen Probenarbeit konnten sich die sechs Schauspieler intensiv in die vorliegende Bearbeitung einmischen. Es wurde viel diskutiert und geändert. "Es gibt eine spielerische Autonomie. Jeder hatte vorher den Roman gelesen und konnte daraus schöpfen. Es hat Prioritätenverschiebungen gegeben, aber 70 Prozent der ursprünglichen Vorlage benutzen wir", erklärt die Regisseurin. Mohammed Atta, einer der Attentäter, kommt anders als bei DeLillo in der Thalia-Version allerdings nicht vor.

Auch wenn Keith am Ende seine Sprachlosigkeit ablegt und die Geschehnisse aus seiner Sicht erzählt, erwächst daraus keine Hoffnung. Wenn er sich wirklich den Dingen stellen würde, könnte das etwas Reinigendes haben. Doch das geschieht nicht. Die Regisseurin bemüht Kleists Aufsatz über das Marionettentheater, um Keith zu beschreiben: "Es ist der Riss zu sehen, der durch seine Figur geht."

Falling Man Premiere heute, 20.00, Thalia in der Gaußstraße (S Altona), Gaußstr. 190, ausverkauft, Restkarten für den 28.1.

Lesen Sie dazu auch: Die Lessingstage - Gastspiele im Geiste der Aufklärung