Für den Streik hat die Thalia-Leitung Verständnis. Dennoch stellen die Forderungen sie vor Probleme. Konsequenz: ein kleineres Ensemble.

Hamburg. Auf dem Weg zum Thalia-Bühneneingang muss man sich dieser Tage durch die trillerpfeifenden Demonstranten schlängeln, das Getöse der Streikenden in Gewerkschafts-Leibchen dringt durch das geöffnete Fenster auch hinauf ins Intendantenbüro von Thalia-Chef Joachim Lux. Am Montag ist an seinem Theater die Vorstellung des "Don Carlos" ausgefallen, am Schauspielhaus wurde "Die Möwe" abgesagt. Wir haben mit ihm und Thalia-Geschäftsführer Ludwig von Otting über den Theaterstreik, die Tarifforderungen, Schauspielergagen und die aktuelle Debatte um Subventionsgerechtigkeit gesprochen.

Hamburger Abendblatt: Am Montag ist am Thalia-Theater der "Don Carlos" ausgefallen. Haben Sie Verständnis für die Streikenden?

Joachim Lux: Ich habe Verständnis dafür, dass die Angestellten des Öffentlichen Dienstes Lohnforderungen stellen. Der gesellschaftliche Wohlstand ist nicht gerecht verteilt.

Viele Zuschauer denken vermutlich: Das Theater streikt, also wollen die Schauspieler nicht spielen - was nicht stimmt. Schauspieler streiken nie. Warum eigentlich nicht? Die verdienen doch auch nicht üppig.

Lux: Nein, wahrlich nicht. Das ist ein Theatergesetz: Der Lappen muss hoch. Die Vorstellung muss stattfinden. Wir wollen und können die Zuschauer nicht enttäuschen.

+++Kultur ist unser Schatz+++

+++ Große Bühne +++

Wenn das so ist - wie ausgeprägt ist denn das Verständnis des Ensembles für die streikenden Bühnenarbeiter?

Lux: Das ureigenste Interesse des Schauspielers ist zu spielen, das ist ein Naturgesetz. Trotzdem gilt am Theater das Solidarprinzip, insofern ist da natürlich auch Verständnis. Aber die Gehaltspyramide innerhalb des Theaters ist nicht stimmig. Es gibt eine Verarmung der Kunst im Verhältnis zum Betrieb.

Was bedeutet das?

Ludwig von Otting: Die Tariflöhne in der Bundesrepublik sind zwischen 1992 und 2012 im Schnitt um 67 Prozent gestiegen. Die Durchschnittsgage unserer Schauspieler ist im selben Zeitraum um 22 Prozent gestiegen. Unsere Höchstgagen sind seit 1985 dieselben: damals 12 000 Mark, heute 6000 Euro. Die niedrigste Gage liegt bei 1900 Euro, das zahlen wir mit schlechtem Gewissen. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Ensemblekosten am Gesamthaushalt von 30 auf 25 Prozent gefallen. Problematisch wird es nun, wenn die Forderungen der Streikenden erfüllt werden - und wir diese Tarifsteigerungen nicht ausgeglichen bekommen.

Lux: Der Worst Case wäre: vier Prozent Tarifsteigerungen, die uns von niemandem erstattet werden. Das würde das Theater strangulieren.

von Otting: Die Kulturbehörde hat die Rechnung ja längst anerkannt: Uns fehlen heute bereits 1,1 Millionen, das setzt sich zusammen aus nicht eingehaltenen Zusagen, Kürzungen und nicht ausgeglichenen Tariferhöhungen. Außerdem haben wir seit Jahren einen Sanierungsstau in Höhe von rund 12 Millionen Euro.

Zuletzt haben Sie die Tarifsteigerungen selbst erwirtschaften müssen. Wo mehr Lohn bezahlt wird, muss an anderer Stelle gespart werden. Mal ganz naiv gefragt: Warum werden die Tarifsteigerungen am Theater denn nicht wie für alle anderen im öffentlichen Dienst ausgeglichen?

von Otting: Werden sie ja, nur nicht in voller Höhe. Und das ist keineswegs der Regelfall. Hamburg ist gewissermaßen die Avantgarde des Nicht-Ausgleichens, hier wurde das erfunden. In Frankfurt oder Stuttgart beispielsweise bekommen die Theater die Tarifsteigerungen voll erstattet. Unser "Problem" ist: Wir sind, mit 350 Mitarbeitern, das wirtschaftlich erfolgreichste Theater in Deutschland und erwirtschaften 25 Prozent unseres Etats in Höhe von rund 23 Millionen an der Kasse selbst. Von der Stadt erhalten wir 18, 3 Millionen Euro. Daraus schließt die Finanzbehörde, dass die Stadt auch nur 75 Prozent der Tariferhöhungen übernehmen muss. Die fehlenden 25 Prozent sollen wir durch Preiserhöhungen selbst erwirtschaften. Das geht natürlich nicht, damit würden wir irgendwann nur noch für Besserverdiener Theater machen.

Was ist die Konsequenz?

Lux: Die Theater sind ja längst am Limit: Wir könnten Inszenierungen streichen, nur fünf Premieren im Großen Haus statt neun, oder im Ernstfall auch eine Spielstätte schließen, wobei das wohl eher symbolisch wäre.

von Otting: Wir haben das tatsächlich durchgerechnet: Würden wir die Gaußstraße schließen, brächte das maximal 500 000 Euro, weil wir den Einnahmeausfall gegenrechnen müssten.

Die künftige Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier hat sich aus einer guten Verhandlungsposition heraus Tarifausgleiche und Entschuldung zusagen lassen. Können Sie vorbehaltlos gönnen oder mussten Sie da auch kurz schlucken?

Lux: Ich gönne es ihr. Denn das zeigt ja, dass offenbar alle Parteien der Grundüberzeugung waren, dass es Tarifausgleiche geben muss. Aber wissen muss man auch: Das Schauspielhaus hatte zuletzt 2 Millionen mehr als das Thalia, zukünftig könnte die Differenz bis zu vier Millionen betragen. Das gab es noch nie.

Welche Möglichkeiten bleiben Ihnen also? Entlassungen?

Lux: Das Thalia-Ensemble besteht seit jeher aus rund 40 Mitgliedern. In der kommenden Spielzeit werden wir erstmals nur 32 Ensemblemitglieder haben. Und wir haben auch sonst Stellen nicht mehr besetzt. Wenn das so weitergeht, wird der Spielbetrieb zusammenbrechen.

Wer wird in der nächsten Spielzeit nicht mehr dabei sein?

Lux: Josef Ostendorf zum Beispiel möchte wieder frei arbeiten, das sind völlig normale Vorgänge. Nicht normal ist, dass wir nicht nachbesetzen.

Sie verfolgen sicher auch die derzeitige Debatte um das Buch "Kulturinfarkt". Der Vorschlag steht im Raum, alle Kultursubventionen um die Hälfte zu kürzen.

Lux: Das ist polemisch, und die Autoren sind offenbar nicht hinreichend informiert, um es höflich auszudrücken. Wir haben zwar nicht McKinsey im Haus, aber die Unternehmensberater sind wir selbst. Das ist wie in einer Autofabrik, wo das Band effizient genutzt wird. Wir überlegen auch ganz genau, wie wir unsere Kapazitäten einsetzen. Auch bei uns muss die Bühne zwischen frühmorgens und 23.30 Uhr optimal ausgelastet sein. Das Klischee, da sind Traumtänzer, die mal so ein bisschen Kunst machen, geht an der Wirklichkeit völlig vorbei.

Was antworten Sie auf den Vorwurf, viele Inszenierungen sprechen die Bedürfnisse des Publikums nicht mehr an? Verführt der Spardruck nicht dazu, den Spielplan gefälliger zu gestalten?

Lux: Das darf er gar nicht. Wir haben einen Bildungsauftrag, auch dafür bekommen wir unsere Subventionen. Wir sind ein Kunst- und ein Dienstleistungsinstitut. Das ist nicht immer deckungsgleich. Im besten Fall geht beides zusammen. Wir machen hier ja kein Harakiri, aber wir werden auch fürs Risiko subventioniert. Niemand weiß vorher genau, welche Inszenierung ein Knaller wird.

von Otting: Es gibt eigentlich nur drei Stücke, die immer funktionieren: "Die Dreigroschenoper"...

Lux: ... "Faust" und "Die Räuber". Zwei haben wir immerhin im Spielplan.