Das rollende R in Verbindung mit dem gelispelten S hat ihn ebenso unverkennbar gemacht wie seine blitzgescheite und oft bissige Literaturkritik: Marcel Reich-Ranicki ist am Mittwoch im Alter von 93 Jahren gestorben.

Marcel Reich-Ranicki hat das Bild des Kritikers wie kein anderer in der deutschen Nachkriegsgeschichte geprägt, obwohl er erst 1958 aus Polen in die Bundesrepublik gekommen war. Seine donnernden Verrisse, seine Lobeshymnen haben Einfluss auf Verlegergeschmack, den Literaturbetrieb und die Leser genommen. Der am 2. Juni 1920 in Polen geborene Marcel Reich, der nicht nach dem „Deutschen Reich“, das ihn umbringen wollte, heißen mochte und der deshalb seinem Namen später den polnischen Namen Ranicki hinzufügte, ist am Mittwoch im Alter von 93 Jahren in Frankfurt gestorben.

Marcel Reich-Ranicki hat Autoren verdammt (Arno Schmidt für seine „geblähte Sprachwelt“, Peter Handke für seinen „hohen Ton“, Hubert Fichte für seinen „Kolossalanspruch“) und gefördert (Ulla Hahn, Hermann Burger, Sarah Kirsch). Je nach Gemütslage haben die einen ihn als „Oberlehrer“, „Rechthaber“, „Terminator“, als „furchtbaren Kunst-Richter“ oder „glatzköpfigen Kommissar“ bezeichnet. Martin Walser hat ihm gar einen Roman gewidmet, der schon im Titel sein Wunschdenken verrät und „Tod eines Kritikers“ heißt. Die anderen nannten Reich-Ranicki „Entertainer“, „Orakel vom Main“ oder „Landesmeister der Literaturkritik“.

Reich-Ranicki war nie geschmeidig, nie angepasst. Er war ein Original und wurde allein schon deshalb zum Helden zahlloser Dramolette und Kabarettveranstaltungen. In die Literatur ist er eingegangen in Grass' „Tagebuch einer Schnecke“, Walsers „Ohne einander“, Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“, nirgends sehr schmeichelhaft.

Marcel Reich-Ranicki war in all seiner Leidenschaft ein begnadeter Schauspieler und trat stets in der Rolle seines Lebens auf: der des unermüdlichen Kämpfers für eine seriöse und deshalb oft schwierige Literatur, die er einem breiteren Publikum nahezubringen hoffte. So wurde er als Literaturkritiker fast ein Pop-Star.

Die Literatur rette das Leben

In der polnischen Kleinstadt Wloclawek wurde er als Sohn eines polnischen Kleinunternehmers und einer preußischen Mutter geboren, die ihm die Sehnsucht nach Deutschland und der deutschen Literatur, die er als seine Heimat bezeichnete, eingab. 1929, im Alter von neun Jahren, wurde er nach Berlin geschickt, das ihm als „Land der Kultur“ angepriesen wurde und in dem man dem Juden und seiner Familie schon wenige Jahre später nach dem Leben trachtete. Nach dem Abitur 1938 wollte er Germanistik studieren, wurde aber verhaftet und nach Warschau deportiert. Ein Buch nahm er mit in das Getto, Balzacs „Die Frau von dreißig Jahren“. Als Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Teofila 1943 auf dem Weg zum Zug ins Vernichtungslager, wo Eltern und Bruder ermordet wurden, die Flucht gelang, rettete ihnen die Literatur das Leben: Ein polnischer Schriftsetzer versteckte die beiden. Dafür, dass er dessen Familie jeden Abend eine Geschichte erzählte, wurde er belohnt, mit einem Stück Brot, mit zwei Mohrrüben. Reich-Ranicki hat, in einem Kellerloch und um sein Leben fürchtend, Shakespeare, Schiller, Goethe, Fontane oder Heine rezitiert.

Andere Lieblingsautoren sind Lessing, Büchner, Schlegel, Börne. Unter seinen Zeitgenossen schätzte er Böll, Johnson, Frisch, Nabokov, Koeppen, Bernhard, Kaschnitz, und immer wieder Thomas Mann. Martin Walsers Romane verriss er mal mit dem Groll eines Donnergottes (über „Jenseits der Liebe“ schrieb er: „Es lohnt sich nicht, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen“), mal lobte er sie (über „Das fliehende Pferd" schrieb er: „Diese Prosa lebt, Walsers überzeugendste Arbeit“). Ähnliches widerfuhr sonst nur Anna Seghers oder Günter Grass. Von Walser erzählte er, dass er ihn einmal dazu bringen wollte, vor der Thomas-Mann-Büste, die in Reichs Wohnzimmer steht, niederzuknien, „er hat sich geweigert, der Feigling“. Dass er Grass' „Blechtrommel“ verriss – „kein guter Roman“ –, hielt er für eines seiner schlimmsten Fehlurteile. Dass er Bölls „Billard um halb zehn“ zu positiv beurteilte, auch.

„Er hat etwas so Definitives“, hat ein Kollege einmal über Marcel Reich-Ranicki gesagt und damit zweifellos eine genaue Charakterisierung des bedeutendsten deutschen Literaturkritikers geliefert. Nicht nur, dass Reich-Ranickis Urteile oft mit schamloser Schärfe, immer aber eindeutig, subjektiv, unmissverständlich geschrieben sind. Auch sein Erscheinungsbild ist unverwechselbar und war selbst im Schattenriss noch leicht zu identifizieren.

Sein rollendes R in Kombination mit dem gelispelten S, eine Stimme, die durch viele Tonlagen gleiten und mal bellen, mal zärtlich schmeicheln konnte, die fiebrige Leidenschaft seiner barocken Gesten, das listig-neugierige Neigen des kahlen, bebrillten Kugelkopfes, der drohende, an Gottvater gemahnende Zeigefinger – all das war MRR, dessen Initialen nicht von ungefähr Assoziationen an die solide Qualität der britischen Nobelmarke Rolls-Royce weckten.

Ein Anekdotenschatz zählte zur wichtigsten Ausstattung des Kritikers, der sich in der Tradition von Tucholsky, Karl Kraus, Kerr oder Polgar sah. Treffsicher, pointiert und aus der Position des gesunden Menschenverstandes schrieb er seine Urteile. Von den nahezu 100 Rezensenten, die über jährlich 1000 Bücher im Literaturteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den er 15 Jahre lang leitete, schrieben, erwartete er, dass sie verständlich und lesbar schrieben, „nicht unbedingt gut, schließlich ist die Kritik selbst keine Literatur“. Immer wieder hat er seine Mitarbeiter daran erinnert, „dass der Leser absolut nichts über das Buch, das der Kritiker bespricht, wissen will. Aber die Kritik sollte so geschrieben sein, dass er sie zu lesen beginnt.“

Heftige Anfeindungen

Von guter Literatur forderte Reich-Ranicki „Zeitgenossenschaft, Überprüfbarkeit der Erfahrung, Verständlichkeit, Ökonomie der Mittel und die Abwesenheit von Langeweile“. Wenn knackige Erotik vorkam, war’s auch nicht schlecht. Mangelnde Intelligenz hingegen darf man Autoren nicht vorwerfen, „einer der verbreitetsten Irrtümer ist, dass Schriftsteller intelligent“ seien, urteilte er.

Wer derart wenig handzahm war wie Reich-Ranicki, wurde natürlich heftig angefeindet. Peter Handke bescheinigte ihm, er habe „statt Urteilen nur Vorurteile“. Günter Grass verachtete mit dem Kritiker gar das gesamte Gewerbe, „die Autoren sind schließlich die Arbeitgeber der Kritiker“, woraufhin Reich blitzgescheit erwiderte: „Sind die Verbrecher etwa die Arbeitgeber der Richter?“ Mal drohte man ihm öffentlich „Jetzt reicht’s, Ranicki“ oder behauptete: „Wer möchte mit einem Mann rechten, der es zu seinen Pflichten zählt, Schriftstellern notfalls auch Totenscheine auszustellen?“

Am 21. Juli 1958 stand Reich-Ranicki im Frankfurter Hauptbahnhof, in der Tasche 20 DM und ein 90 Tage gültiges Besuchervisum. Mit seiner Frau bezog er ein kleines Zimmer zur Untermiete. Zuerst lebt das Paar in einfachsten Verhältnissen. Auch als sie nach Hamburg-Niendorf umzogen, lebte das Paar weiterhin bescheiden, in einer Zweizimmerwohnung. Beide Eheleute mochten keinen Pomp, sie gingen aber gerne aus. Ungeduld, Neugierde und Lust am Klatsch bezeichnete Reich-Ranicki als seine hervorstechendsten Eigenschaften.

Reich war ein Charmeur, konnte aber auch ungehalten werden. Einmal fragte ich ihn, was er von einem Gedicht Rimbauds halte, und er blaffte herum, dass er das nicht sagen könne, denn übersetzte Gedichte, deren Qualität ließe sich nicht erkennen. Sofort tat es ihm leid, seine Tonlage änderte sich, „meine Liebe“ jubilierte er, „was gibt es Neues beim Theater?“ Dass er populärer wurde als alle, über die er geschrieben hat, hing mit seinem Talent zusammen, stets unterhaltsam und nie belehrend auf seine Leser und Zuschauer einzuwirken. 15 Jahre lang, von 1973 bis 1988, leitete er das „Literarische Leben“ der „FAZ“, zuvor war er Literaturkritiker der „Zeit“. Von 1988 an veranstaltete Marcel Reich-Ranicki jahrelang das „Literarische Quartett“ im ZDF und machte das Lesen damit beinahe zum Volkssport. Als Autor war der Kritiker erfolgreicher als beinahe jeder andere deutsche Schriftsteller. Seine Autobiografie „Mein Leben“ verkaufte sich millionenfach, wurde auch verfilmt.

Seit seine lebenslange Gefährtin und Ehefrau Tosia vor zwei Jahren im Alter von 91 Jahren gestorben war, kümmerte sich Sohn Andrew, ein international ausgezeichneter Mathematiker, der als Professor in Schottland arbeitet, um seinen Vater. Mit dem Tod Reich-Ranickis stirbt ein Vorbild. So einen wie ihn wird es nicht mehr geben.

Zitate von Marcel Reich-Ranicki

"Viele Autoren und Kritiker hegen ein Misstrauen gegen unterhaltsame Literatur. Ich sage: Literatur darf nicht nur unterhaltsam sein, sie muss es sogar!"

"Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben. Egal ob Autor oder Kritiker – Eitelkeit muss dabei sein. Sonst entsteht nichts."

"Ich habe die Entscheidung nie bedauert, mich in diesem Land niederzulassen."

"Die Angst vor der deutschen Barbarei, das habe ich auch in meiner Autobiografie geschrieben, hat mich ein Leben lang begleitet."

"Der Kritiker ist kein Richter, er ist der Staatsanwalt oder der Verteidiger."

"Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik."