Literaturkritiker Hellmuth Karasek zum Tod seines Freundes und Wegbegleiters. Marcel Reich-Ranicki lebte 13 Jahre in Hamburg-Niendorf.

Frankfurt/Main/Hamburg. Der Tod von Marcel Reich-Ranicki hat bei seinem langjährigen Weggefährten Hellmuth Karasek große Trauer hervorgerufen. „Ich habe seinen Tod mit schlechtem Gewissen aufgenommen. Wir haben versucht, einen Termin für ein Treffen zu finden, und ich habe es auf die Zeit der Buchmesse verschoben“, sagte Karasek dem Hamburger Abendblatt. „Ich bin sehr traurig, dass ich ihn nicht mehr sprechen konnte.“

Karasek sagte, beide hätten ein freundschaftliches Verhältnis gehabt. Reich-Ranicki, der als Literaturkritiker der „Zeit“ 13 Jahre in einer kleinen Wohnung am Ubierweg in Hamburg-Niendorf gewohnt hat, kam zur selben Zeit nach Hamburg wie Karasek, der lange Jahre Chefkritiker des „Spiegel“ war.

„Wir waren beide neu in Hamburg“, so Karasek. Kennengelernt hätten sich beide aber über eine Verbindung zum Theater, erinnert sich Karasek. Reich-Ranicki habe ihm gesagt, dass er sich vom Alltag in der NS-Diktatur 1937/1938 viel Trost in Theaterbesuchen geholt habe. „Das hat uns anfänglich verbunden – das Theater.“

Karasek sagte, wie Reich-Ranickis Frau habe er den Großkritiker gedrängt, seine Lebenserlebnisse aufzuschreiben. „Wir saßen nach der Premiere von Schindlers Liste mit unseren Frauen zusammen, und da brach es aus Marcel Reich-Ranicki heraus: was er im Warschauer Getto erlebt hatte.“ Karasek wandte die alte Journalistenweisheit aus der Ära von Reporterlegende Egon Erwin Kisch an: „Schreib das auf!“ Das Buch „Mein Leben“ wurde ein Bestseller.

Sein letzter großer Auftritt war bei der Holocaust-Gedenkstunde des Deutschen Bundestags am 27. Januar 2012. Marcel Reich-Ranicki erinnerte als Zeitzeuge in bewegenden Worten an das Schicksal der Bewohner des Warschauer Gettos.

Im Oktober 1993 widmete der „Spiegel“ Reich-Ranicki eine Titelgeschichte und stellte ihn auf dem Cover als Bücher zerfetzenden Bullterrier dar. Das war zwar kein Ruhmesblatt für den Qualitätsjournalismus, aber Beleg dafür, dass der Kritiker auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt war.

Er gehörte zu den mächtigsten Männern des Literaturbetriebs, vor dessen Urteil Autoren und Verlagsmanager zitterten. Und er hatte es geschafft, die schöngeistige Literatur zum Gegenstand einer TV-Unterhaltungssendung zu machen, dem „Literarischen Quartett“ im ZDF.

Dass gerade er, der das Medium Fernsehen wie kein Zweiter für seine Interessen einspannte, 2008 den Ehrenpreis des Deutschen Fernsehpreises polternd zurückwies, lag wahrscheinlich nicht nur an der Qualität der ausgezeichneten Produktionen, sondern auch an seinem wenig ausgeprägten Sinn für Takt und Diplomatie. Reich-Ranicki war in der Regel liebenswürdig, konnte aber auch schroff werden und austeilen. „Ungeduld und Neugierde“ nannte er einmal als seine Hauptcharakterzüge.

Als Ende der 1990er Jahre die Auguren den baldigen Niedergang des „Literarischen Quartetts“ und seines Gastgebers voraussagten, schrieb Reich-Ranicki seine Autobiografie „Mein Leben“. Mit dem Buch sei der Kritiker und Publizist zum Schriftsteller geworden, lobte etwa Iris Radisch von der „Zeit“. Seine Popularität war kaum noch zu steigern.

Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 im polnischen Wloclawek als drittes Kind des jüdischen Fabrikbesitzers David Reich und seiner Ehefrau Helene geboren. Als er kaum neun Jahre alt war, musste er mit seiner Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Berlin übersiedeln.

Seine Lehrerin verabschiedete ihn mit den Worten: „Mein Sohn, du fährst jetzt in das Land der Kultur.“ Doch das Land der Kultur entpuppte sich schon bald als das Land der Barbarei.

Im Herbst 1938, nach dem Abitur am Fichte-Gymnasium, wurde er verhaftet und nach Polen ausgewiesen. Von 1940 bis 1943 lebte er im Warschauer Getto, wo er seine große Liebe und spätere Ehefrau Teofila Langnas kennenlernte. Am 3. Februar 1943 konnten die beiden fliehen. Beider Eltern und Reich-Ranickis älterer Bruder Alexander Herbert überlebten die Gräuel der NS-Lager allerdings nicht.

„Warum wurden wir gerettet?“ Diese Frage, die sich fast alle Überlebenden des Holocausts stellten, begleitete auch Reich-Ranicki sein ganzes Leben lang. „Wer verschont wurde, während man die Seinigen gemordet hat, kann mit sich und der Welt keinen Frieden machen.“ Vielleicht ist ja das der Grund für die Ungeduld und das Außenseitertum des Autors und Kritikers.

Nach dem Krieg kehren Marcel und Teofila nach Warschau zurück. 1946 tritt er der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitet in der polnischen Militärkommission in Berlin, im Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst. In England legt er sich den Namen Ranicki zu. 1950 tritt er als Lektor für deutsche Literatur in einen großen Warschauer Verlag ein. Anschließend wirkt er als freier Schriftsteller.

Nach der Übersiedlung nach Deutschland 1958 begleitet er die Tagungen der „Gruppe 47“ um Hans Werner Richter. Reich-Ranicki ist überall dabei, gehört aber nirgendwo richtig dazu. Als der junge Günter Grass ihn einmal fragt, was er denn nun sei, Deutscher oder Pole, antwortet er ohne zu zögern: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.“

Später korrigiert er das in seiner Autobiografie. „Hier stimmte nichts. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude.“

Religiös ist der Kritiker tatsächlich nicht, er geht nicht in die Synagoge. Auf die Frage, „Glauben Sie an Gott?“, antwortete er in einem „Spiegel“-Gespräch zu seinem 85. Geburtstag: „Ich glaube an Shakespeare und Goethe, an Mozart und Beethoven.“ Auch das Christentum ist ihm suspekt, zumal nach Auschwitz.

Von 1960 bis 1973 schreibt Reich-Ranicki als freier Literaturkritiker für die „Zeit“. Dann bietet ihm sein Förderer und Freund, der Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Joachim Fest, die Leitung des Literaturressorts des Blattes an, die er bis 1988 innehat. Umso betroffener reagiert er auf das Ende dieser Freundschaft.

Auslöser war Fests Rolle im sogenannten Historikerstreit aus dem Jahr 1986, der auf eine Relativierung der NS-Verbrechen hinauslief. „Der Mensch, dem ich zu größtem Dank verpflichtet bin, hat mir auch den größten Schmerz zugefügt“, schreibt Reich-Ranicki später in seiner Autobiografie.

In den vergangenen Jahren waren die öffentlichen Auftritte Reich-Ranickis selten geworden. Das Alter sei eine Qual, bekannte er im Hessischen Rundfunk. Er denke jeden Tag an den Tod. Vor zweieinhalb Jahren starb seine Frau Teofila. Er glaube nicht an ein irgendwie geartetes Jenseits, sagte Reich-Ranicki: „Danach ist nichts“

Zur Erinnerung an Marcel Reich-Ranicki ändern ZDF und ZDFinfo ihr Programm. An diesem Mittwoch sendet ZDFinfo um 20.15 Uhr ein Porträt des „Herrn der Bücher“: „Marcel Reich-Ranicki – Ein Leben für die Literatur“. Im ZDF ist der Film um 23.15 Uhr zu sehen.

Am Donnerstag erinnern sich Gäste und Weggefährten bei „Markus Lanz“ um 23.15 Uhr an den „Literaturpapst“. Um 0.45 Uhr sendet das ZDF den Porträtfilm „Ich, Reich-Ranicki“. Autoren des Films aus dem Jahr 2006 sind Lutz Hachmeister und Gert Scobel.