Hamburg. Dass dieser Mann, eine silbergraue Erscheinung mit faltiger Haut, eine anständige Wegstrecke Leben hinter sich hat, dass dieser Mann tagelang, hinter jeden Busch – Entschuldigung – scheißend durch die Gegend läuft, ist ja nur das eine. Das andere, das sind seine robust ausgestoßenen Äußerungen, die selbstgewiss sind und … speziell. Vielleicht, so denkt man am Anfang mit dem Ich-Erzähler, ist auch das Reden dieses Mannes Durchfall. Verbaler.
Die Gegend, um die es hier geht, in der sich der Erzähler Hans, ein eher unspontaner, rechtschaffener Hamburger, und der Mann treffen, ist Afrika. Genauer: Tansania. Noch genauer: der Kilimandscharo. Ganz oben, auf seinem höchsten Gipfel, auf dem Kibo. Man hat es dort mit Afrikanern zu tun, besser noch: Tansaniern. Sie führen einen den Berg hoch, tragen das Gepäck, kochen. Sie sind die guten Seelen, die Beschützer und vieles mehr. Und dennoch, sagt also der Mann, der so überwältigende Probleme mit seiner Verdauung hat, muss man mit ihnen, den „Negern“, „immer mal wieder Klartext reden“.
Leidlich, extrovertiert, unverkopft und kommunikativ
Wer kann sich so was anhören, ohne dass ihm die Hutschnur platzt? Hans jedenfalls nicht, und deswegen liegt auf der Begegnung zunächst kein Segen. „Ja, verreck nur, du Scheißkerl, dachte ich, dann sind wir alle erlöst“, heißt es früh in diesem Roman, der ganz sicher einer der erstaunlichsten in diesem ganzen Jahr sein wird. Er heißt „Das kann uns keiner nehmen“ und stammt vom in Hamburg, aber auch in München lebenden Schriftsteller Matthias Politycki. Der hat manches veröffentlicht in den vergangenen Jahren, doch seit 2013, seit „Samarkand Samarkand“, der in Zentralasien spielte, keinen Roman mehr.
Aber dann jetzt so einen! Mit solch einem Helden! Sein Name: „der Tscharli“. Und der ist gar keiner, dem man das „Verrecken“ an den Hals wünschen muss. Die Einheimischen zum Beispiel, die ihn (wie er sich auch) „Big Boss“ und „King of Fulalu“ nennen, lieben ihn. Weil der Tscharli, dieser verrückte Deutsche, der Bayrisch spricht und bayrisches Englisch (gemixt mit Suaheli) so leidlich, so extrovertiert ist, so unverkopft und kommunikativ.
Afrika ist ein Abenteuer
Dabei tut der Tscharli noch nicht einmal so, als sei er etwas anderes als ein bornierter Auslandsdeutscher, der sich mit seinem eigenen kleinen Horizont die ganze Welt in ihrer Erfahrungsvielfalt untertan machen möchte. Ob man, auch als Leserin oder Leser, einen Mann mögen kann und darf, der „Neger“ sagt: Diese Frage sagt viel über die Frontlinien unserer Gesellschaft, über den Zeitgeist. Das ist ein Thema dieses Buches.
Eines unter etlichen. „Das kann uns keiner nehmen“ ist ein Reiseroman; Matthias Politycki ist ein weit gereister Mann, der sein Touren über den Kontinent immer wieder poetisiert und literarisiert hat. „Das kann uns keiner nehmen“ ist auch, gewissermaßen, ein Abenteuerroman. Weil Afrika ein Abenteuer ist. „Das kann uns keiner nehmen“ ist ein Roman, der dem Kontinent beinah jegliche Romantik austreibt. Und es ist ein Roman über Freundschaft, über zwei Männer, die ein seltsames Paar werden, ziemlich beste Freunde halt.
Politycki erzählt umstandslos und zügig
Danach sieht es am Anfang nicht aus, als sich Hans und Tscharli auf dem Kibo in die Arme laufen. Wer will schon weit weg von Zuhause gleich auf andere Deutsche treffen? Doch die beiden verbringen nebst Einheimischen eine bitterkalte Nacht auf dem Berg. Danach sind sie unzertrennlich. Was einzig und allein am Tscharli liegt. Der hat, nach dem ein oder anderen Disput mit Hans, der sich für Tscharlis Verhalten in Grund und Boden schämt, den so ganz anderen überredet, ihm bei seiner allerletzten Reise zu begleiten. Der Tscharli wähnt sich todkrank, und Hans glaubt ihm jedes Wort. Denn sein Reisekumpan, der ein letztes Mal nach Sansibar will, ist völlig ausgemergelt und baut stetig ab.
Aber verbal eben nicht. Matthias Politycki erzählt umstandslos und zügig, und das Gelingen von „Das kann uns keiner nehmen“ hat seine Ursache vor allem in den Dialogen. Wobei dem Tscharli, was diese angeht, der Hauptanteil gebührt. Sein Bayerisch durchzieht diesen Roman erbarmungslos, und Politycki versteht es, eine Zeit lang den Leser genauso bang wie seinen Erzähler auf Tscharlis nächste Verbaleskapade warten zu lassen.
Widersprüchliche Figur
Dabei erscheint der Kerl doch schon recht bald als widersprüchliche Figur. Mit ihm kann allein deswegen der politisch inkorrekte, alte, weiße Mann mit Hang zum Reaktionären in der Gegenwartsliteratur installiert werden, weil hinter all dem Geschwätz ein weniger grob gewirktes Geschöpf steckt.
Sein krachledernes Wesen ist sowieso vom Streben nach Harmonie („Werd scho, Hansi“) beseelt, und seine unaufhörlich vorgebrachten Sentenzen sind eben nicht nur pseudo-tiefsinnig: „Zu viel gute Laune macht schlechte Laune“; „Wer kuschelt, lebt länger“; „Auch der dicke Löwe springt dich an.“ Da kann man mal drüber nachdenken.
Erzählerisches Manöver
In einem Roman, den man durchaus als nicht allzu ernsten Kommentar zu angeblichen und tatsächlichen Sprechverboten verstehen kann, ist es nur konsequent, denjenigen, der sich um derlei nicht schert, ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Wenn dagegen Hans, der von Beruf übrigens ein säumiger Schriftsteller mit stockender Produktion ist, darüber lamentiert, dass man heute nicht mehr über alle Themen schreiben und viele Worte nicht mehr benutzen kann, kann man das auf das Thema Kunstfreiheit münzen.
Man kann es jedoch auch einfach als erzählerisches Manöver Polityckis lesen: Der Tscharli agiert in seiner kommunikativen Unerschrockenheit das aus, was Hans sich verbietet. Die beiden Figuren werden sich im Laufe der Handlung immer ähnlicher. Aus der Ferne winkt sogar das Doppelgänger-Motiv. Auch Hans wird irgendwann unflätig daherreden und Bierflaschen mit dem Feuerzeug öffnen, der Tscharli sich dann die Haare abrasieren und ein Tuch um seinen Kopf binden, danach sieht er aus wie Hans.
Eindringliches Kapitel
Und noch eine Gemeinsamkeit gibt es: Nachdem die beiden Afrika-Reisenden auf dem Roller über die Insel Sansibar gecruist sind, nachdem der Tscharli Hans die Orte abseits der Postkartenmotive gezeigt hat – in diesen Momenten ist dieser Roman ein die Fremde unaufdringlich erhellendes Buch –, erzählen sie sich ihre grandios gescheiterten oder tragisch zu Ende gegangenen Liebesgeschichten. An diesem Punkt steht der Erzähler dann selbst im Mittelpunkt.
Nach einem missglückten früheren Afrika-Trip hat er „noch eine Rechnung offen“ mit dem Kontinent, wie es mehrere Male heißt. Damals hatte er eine Nahtoderfahrung, die Zustände in tansanischen Krankenhäusern waren schuld. Zu den eindringlichsten Kapiteln dieses Buchs zählt dasjenige, in dem davon berichtet wird, wie kompliziert es ist, einen ernsthaft Erkrankten aus Afrika überhaupt erst rauszubringen. Ein Vierteljahrhundert später nun kann Hans sich mit Afrika versöhnen, Tscharli sei Dank.
Das Duo hat mehr Gemeinsamkeiten als gedacht
Was die katastrophale Afrika-Erfahrung angeht, trägt der Romanerzähler Züge Matthias Polityckis. Der, so ist im Nachwort zu lesen, starb, als er Anfang der 1990er-Jahre das erste Mal in Afrika war, beinah an einer Beininfektion. Was letztlich der Anlass war, „Das kann uns keiner nehmen“ zu schreiben. Dieser tragikomische Roman hätte streng genommen auch ohne die Hans-Krankengeschichte funktioniert, gerade, da es doch schon eine Tscharli-Krankengeschichte gibt. Andererseits: Wir haben es halt mit einem Duo zu tun, das viel mehr Gemeinsamkeiten hat, als es am Anfang dachte. Und während Tscharli körperlich und auch mental immer mehr abbaut, fühlt Hans sich immer mehr für sein Wohlergehen verantwortlich.
„Das kann uns keiner nehmen“ ist eine vergnügliche Lektüre, ein tragikomischer Trip. Und auch mutig: Manche mögen sich an den Sätzen des Tscharli, der zwar auf Rassisten schimpft, afrikanische Frauen (zu sehr) liebt und Deutschland nichts mehr abgewinnen kann, dennoch stören. Weil, forciert ungeschönte, unromantische Perspektive auf einen Kontinent hin oder her, ein salopp dahingeworfenes „Wei’s wahr ist“ nichts zum Besseren wendet. „Der Schwarze“, der brauche keinen Sundowner zu trinken, er fange ja schon viel früher am Tag damit an, lästert der Tscharli, Großmeister der Stereotypen, einmal. Hans kann und will das nicht hören und wir mit ihm: „Wahrscheinlich hatte er sogar recht und es war wahr, aber musste er’s deshalb sagen? Und auf diese selbstzufriedene Weise?“
„Eins kann uns keiner nehmen“ ist eine große Comédie humaine. Wir haben alle den Tscharli in uns, nur raus lassen wir ihn nicht. Was am Ende auch besser so ist.
Matthias Politycki liest Di 3.3., 19.30, Literaturhaus, Karten zu 12,-/8,- unter literaturhaus-hamburg.de
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