Literatur

Ein neuer, alter Roman von Siegfried Lenz

| Lesedauer: 6 Minuten
Thomas Andre
Bei
Hoffmann und
Campe war Günter
Berg (l.) zwischen
2004 und 2013 der
Verleger von Siegfried
Lenz. Die
Aufnahme stammt
aus dem Jahr 2007

Bei Hoffmann und Campe war Günter Berg (l.) zwischen 2004 und 2013 der Verleger von Siegfried Lenz. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2007

Foto: Jürgen Joost

Eineinhalb Jahre nach dem Tod des Erzählers erscheint ein bislang unbekanntes Werk. Interview mit Lenz-Kenner Günter Berg.

Hamburg.  Der „Spiegel“ nennt diesen Roman eine „Sensation“, und das kommt schon irgendwie hin. Schließlich wusste eigentlich niemand davon, dass Siegfried Lenz (1926–2014) zwischen dem 1951 erschienenen Debüt „Es waren Habichte in der Luft“ und seinem vermeintlichen zweiten Roman „Duell mit dem Schatten“ (1953) ein weiteres Buch geschrieben hat. Jetzt erscheint der Antikriegsroman „Der Überläufer“ erstmals, sechseinhalb Jahrzehnte nach seiner eigentlich geplanten Veröffentlichung. Günter Berg, ehemals Verleger beim Lenz-Stammverlag Hoffmann und Campe und jetzt Vorsitzender der Siegfried Lenz Stiftung, erzählt im Abendblatt, wie es dazu kam.

Hamburger Abendblatt: Wann und wo stießen Sie auf das Manuskript von „Der Überläufer“?

Günter Berg: Das Manuskript ist Teil des persönlichen Archivs von Siegfried Lenz, dass auf seine Veranlassung hin im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar aufbewahrt wird. Und dort wurde es im Zuge der Aufarbeitung des Nachlasses gefunden. Ich kenne das Material seit Mai 2015.

Wussten Sie, wusste irgendjemand von der Existenz des Stoffes?

Berg: Nein. Obwohl es in der „Zeit“ von November 1951 bereits eine Erwähnung des „Überläufer“-Projekts im Rahmen einer Sammelrezension gegeben hat. Der Autor jedenfalls hat sich um diesen Stoff nicht mehr gekümmert, hat dar­über nie gesprochen.

Was dachten Sie als einer der ersten Leser überhaupt über das Manuskript und seine Hauptfigur, den masurischen Deserteur Walter Proska?

Berg: Am Anfang stand die Verwunderung über die Tatsache an sich: Woher kommt ein vollständiges Romanmanuskript in zwei penibel ausgearbeiteten Fassungen? Warum kannten wir das nicht? Warum hat Siegfried Lenz dar­über nie gesprochen etc. – dann wich die Verwunderung dem Erstaunen vor der enormen Qualität dieses Romans.

Der Lenz-Roman – sein zweiter nach „Es waren Habichte in der Luft“ – erschien schließlich nicht, weil Hoffmann und Campe die Veröffentlichung ablehnte. Warum?

Berg: Lenz lässt seinen Helden Walter Proska – der im Übrigen kein Deserteur ist! – im Roman eine Entscheidung treffen, die der Verlag nicht mittragen konnte oder wollte in diesen Jahren: Ein Soldat der deutschen Wehrmacht läuft über zur Roten Armee, statt sich von Partisanen erschießen zu lassen.

Wie reagierte Lenz auf die Ablehnung?

Berg: Er akzeptierte die Entscheidung des Verlags schließlich, das Buch nicht zu bringen. Er weigerte sich allerdings, den Roman umzuschreiben und seine Haltung zu korrigieren.

Wo liegt Ihrer Meinung nach die Aktualität des Stoffes?

Berg: Solange es Kriege gibt, solange es Menschen gibt, die überzeugt sind, in Pflichterfüllung sterben zu müssen, solange ist dieser Roman nicht nur aktuell, er ist ein Lehrstück und damit brisant.

Wie fügt sich der Roman in das Gesamtwerk ein?

Berg: Lenz thematisiert im „Überläufer“ bereits 15 Jahre vor der „Deutschstunde“ die Themen Schuld, Gewissen und Verrat in einer Art, wie sie zu dieser Zeit nur wenige in Deutschland sehen wollten. Insofern ist das Buch ein weiteres Indiz für das enorme, früh schon sichtbare Talent dieses Autors.

Sehen Sie internationale Erfolgschancen für den Roman? Wie steht es überhaupt grundsätzlich um die Attraktivität deutschsprachiger Literatur im Ausland?

Berg: Lenz’ „neuer“ Roman wird gewiss in verschiedenen Ländern erscheinen, Dänemark, die USA, Frankreich, Italien haben Interesse angemeldet, weitere werden folgen; auch, wenn es die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den letzten Jahren nicht leicht hatte, in den „großen Ländern“ – allen voran den USA – veröffentlicht zu werden.

Sind Sie auf weitere Schätze im Nachlass gestoßen?

Berg: Ich „befürchte“, dass wir noch einige, wenn auch eher kürzere Texte für den Funk oder für Zeitschriften finden, die es nicht in ein Buch geschafft haben. Auch wenn geschlossene Manuskripte dieses Gewichts nicht mehr zum vorliegenden Material gehören werden.

Die Siegfried Lenz Stiftung, deren Chef Sie sind, hat sich unter anderem die wissenschaftliche Aufarbeitung des schriftstellerischen und publizistischen Werks zur Aufgabe gemacht. Gibt es in den germanistischen Fakultäten viele wissbegierige Lenz-Forscher?

Berg: Lenz war stets ein Autor für Leserinnen und Leser, weniger einer für den akademischen Betrieb. Sein Leben verlief in weitgehend geordneten Bahnen, sein Schreiben war verlässlich und weder anbiedernd noch provokant. Das germanistische Institut der Universität Göttingen um Professor Heinrich Detering allerdings wird in den nächsten Jahren zusammen mit dem Hoffmann und Campe Verlag und der Stiftung eine kommentierte Werkausgabe herausbringen.

Man könnte Sie persönlich als obersten Lenz-Lobbyisten des Landes bezeichnen – wie arbeits- und ertragreich ist die Stiftungsarbeit? Wie stellt sie sich dar?

Berg: Siegfried Lenz war mein Freund geworden in den Jahren unserer Zusammenarbeit. Er hat sich verlassen auf mein Urteil als sein Lektor, er gab mir weitestgehende Freiheit bei der Textarbeit; und dasselbe erlebe ich jetzt mit der Familie des Autors. Das ist auch der Grund, warum ich die Edition dieses wiedergefundenen Romans von Anfang an mit einem guten Gefühl in Angriff genommen habe; der Autor war – wenn Sie so wollen – bei diesem heiklen Projekt mit am Tisch.

Lesen Sie am Sonnabend im Magazinteil „Mehr Hamburg“ ein Kapitel aus „Der Überläufer“. Am 17.3., 18 Uhr, findet im Thalia Theater eine Lesung aus „Der Überläufer“ mit Burghart Klaußner statt, Eintritt 10,-