Der Musiker führt heute beim Musikfest Hamburg im Mojo Club seinen nagelneuen Hybrid aus Kirchen- und Kinoorgel vor. Der 33-jährige Amerikaner mit Wohnsitz Berlin ist ein hochbegabter Showman.

Berlin. Enfant terrible ist gar kein Ausdruck für diesen eminent selbstbewussten Störenfried der heilen, ach so heiligen Orgelwelt. Wäre er einer der Ihren, die Kirchenorganisten könnten ihn wenigstens einen Nestbeschmutzer schimpfen. Aber Cameron Carpenter ist keiner der Ihren, war nie einer und will nie einer sein. Der 33-jährige Amerikaner mit Wohnsitz Berlin ist ein hochbegabter Showman, gewiss auch ein ernsthafter Musiker. Aber einer, der unumwunden zugibt, nicht nur als Künstler sehr ehrgeizig zu sein, sondern auch unternehmerisch zu denken. Heute tritt er im Rahmen des Musikfests Hamburg auf – weder in einer Kirche noch in einem Konzertsaal, sondern im Mojo Club, tief unter der Erde von St. Pauli.

In der Kirche schwebt der Orgelklang wie Gottes Wort aus der Höhe über die Gemeinde herab. Der Organist hockt bescheiden und unsichtbar auf der Empore, er präludiert, fugiert und stützt den Choralgesang beim Gottesdienst. Carpenter dagegen tritt mit halb kahl rasiertem Schädel auf, trägt gern Stiefel mit einem Glitzerkoeffizienten, der Liberace selig zur Ehre gereichen würde, und hüllt seinen von vielen täglichen Liegestütze gestählten Körper in stark die Figur betonende Klamotten.

Zur Deutschlandpremiere seines frisch aus den USA angelieferten 1,1 Millionen Dollar teuren digitalen und transportablen Orgel-Prototyps im ehemaligen Delphi-Stummfilmkino im tiefen Osten Berlins Anfang Mai setzt sich Cameron Carpenter auf der Orgelbank so aufreizend in Positur, als reite er eine chromblitzende Harley. Wenn er spielt, den Rücken seiner Gemeinde zugewandt, jagen die Hände über die fünf Manuale seiner Orgel, berühren hier eine Schaltfläche, dort eine andere, da en passant ein Hebelchen. Die Füße in den Glitzerstiefeln huschen behände wie Spinnenbeine über die Pedale.

Hohe rote Transportkisten, aus denen die Lautsprecher ihren verblüffend authentischen, virtuellen Orgelsound abstrahlen, lehnen an den Seitenwänden des Saals. Jetzt oben auf dem Balkon sitzen und hören, wie der Klang der gesampelten Orgel von unten heraufrauscht: Das ist eine seltsame, beinahe blasphemisch anmutende Empfindung. Schon der umgekehrte Weg, den der Sound hier nimmt, stellt die Orgelwelt, wie wir sie kennen, auf den Kopf.

Aber natürlich kommt es viel dicker. In die vermeintlich hehre, erhabene Welt von Bach, Messiaen & Co., deren Stücke Carpenter hoch virtuos, manchmal gehetzt und ohne große erkennbare musikalische Reflexion spielt, bricht immer wieder die andere Welt herein, die Welt der Stummfilmzeit, mit Schlagzeug-Wirbeln, dem Zischen von Becken oder einer Dampflokomotive und lustigen, überraschenden Sounds.

„Die Kirche ist das kommerzielle Ursprungsunternehmen der Orgel und hat mit ihrem Theater der Liturgie die Stereotypen des Instruments geschaffen“, sagt Carpenter. „Aber die Orgel ist kein mystisches, vielmehr ein zutiefst wissenschaftliches Instrument, eine der ausgeklügeltsten Anwendungen der Technik, die die Menschheit geschaffen hat.“ Deshalb fühlt er sich frei, damit zu machen, was ihm möglich ist. Seine digitale Wundermaschine sieht er auch als potenzielles Archiv aller Kirchenorgelklänge dieser Welt.

Doch nicht jede Kirche mag die Idee, dass ihre Orgel digital abgespeichert wird und dadurch jederzeit überall auf der Welt klanglich abgerufen werden kann. Carpenter sagt, in Norddeutschland hätten sich seine Orgelbauer bisher durchgehend einen Korb geholt: „Aber wie kann man die Einzigartigkeit der eigenen Orgel preisen und sich weigern, ihren Klang anderen Menschen auf der Welt zugänglich zu machen?“ Carpenter ist sicher, dass über kurz oder lang auch die feinsten Arp-Schnitger- und Silbermann-Orgeln digital für die Ewigkeit aufgenommen werden. Vielleicht spielt er darauf dann auch richtig gut Bach.

Do, 15.5., 21.30, Mojo Club, Tickets 35 76 66 66