An der Schlei spielt sich ein kulturpolitisches Drama ab: In Schleswig wird darüber gestritten, wo, wie und für wie viel Geld ein neues Theater gebaut werden soll. Landestheater Schleswig-Holstein droht das Aus.

Still ist es, seit zweieinhalb Jahren schon, mitten in einem Städtchen, das sich das Etikett „die freundliche Kulturstadt“ verliehen hat. Seit 1618 wird in Schleswig Theater gespielt. Das Wort „Theater“ stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet den Prozess des „Anschauens“. Im Theater betrachten Menschen, was anderen passiert und was sie daraus lernen können oder auch nicht. Doch in einer kleinen Schleswiger Straße ist längst nichts mehr zu sehen von Welterklärungs-Theater. Man kann schon froh sein, wenn man hier auf der Suche nach einem Kaffee gegen die Kälte fündig wird. Ein Geschäft verkauft Schützenfest-Pokale, ein anderes Wikinger-Trinkhörner. Vor wenigen Tagen erst hat das Land für die Wikingerstätten Haithabu und Danewerk vor den Toren Schleswigs Anträge bei der Unesco auf den Weltkulturerbe-Status eingereicht.

Das Schleswiger Theater, ein klassizistisches Stadttheaterchen, steht in dieser Straße seit zweieinhalb Jahren leer und wartet auf den Abdecker. Die moralische Anstalt für rund 25.000 Menschen ist nur noch eine von allen Musen verlassene Bruchbude mit Schleiblick, morsch, schief, finster, tot. Ein Anblick, der jedem Theaterfreund das Herz bricht. So schnell und vor allem billig wird hier nichts Größeres gebaut werden. Der Boden ist torfig weich. Von einem Tag auf den anderen war für das 1839 erbaute Haus Schluss, als ein schockierter Statiker das Aus verordnete. Nur bei Generalintendant Peter Grisebach im Büro, zwei Türen weiter, brennt noch ein letztes Lichtlein. Er prophezeit, dass 2017 Feierabend sein wird mit dem eigenen Theater in der freundlichen Kulturstadt, wenn nicht bis Ende Februar etwas passiert.

Aus Hamburger Sicht, wo sehr viele Theater um Aufmerksamkeit kämpfen und gerade erst eine neue, bundesweit beachtete Schauspielhaus-Ära begann, ist man Welten von solchen deprimierenden Zuständen entfernt. Doch das Schleswiger Haus ist kein Einzelfall irgendwo in der ausgebluteten Provinz, in die sich überregionale Feuilletons nur selten verirren. Das Haus könnte Ende Februar der entscheidende Dominostein in einem ohnehin fragilen System werden. Elf Standorte werden vom Landestheater Schleswig-Holstein, einem bundesweit einzigartigen Verbund, bespielt, von Flensburg hoch im Norden bis nach Itzehoe. Kiel und Lübeck leisten sich Mehrspartenhäuser, der Rest jedoch wird seit 40 Jahren mit Produktionen und Konzerten aus Flensburg, Schleswig und Rendsburg beliefert. 340 Mitarbeiter, 700 Vorstellungen pro Jahr, Tingeln über die Äcker, beschämend niedrige Gagen, Selbstausbeutung und Zukunftsängste inklusive. Eine Tragödie in vielen Akten und mit vielen kaum bekannten Helden, die sich die Seelen wund spielen, tanzen und singen.

Die Zwangsschließung des Schleswiger Theaters kostet Grisebach 200.000 Euro pro Saison, sagt er, die 1,2-Millionen-Rücklage des Landestheaters schmilzt und schmilzt deswegen. Grisebach warnt schon seit Jahren, Gründe dafür hatte er immer genügend, seit er sein Amt 2010 antrat und obwohl er viel für die Aufbesserung der Besucherzahlen getan hat. Würde er sorgenfrei planen können, müsste er sich auch um einen langfristigen Vertrag für einen Generalmusikdirektor Gedanken machen. Er müsste die nächsten Spielzeiten verbindlich planen können. Die letzte Schauspiel-Premiere im Dezember, das Timing ist fast zu schön, um Zufall zu sein, war Enzensbergers Komödie „Untergang der Titanic“.

Und Mitte Dezember, kurz vor dieser Premiere, hatte die Schleswiger Ratsversammlung einen Beschluss gefasst, der dafür sorgte, dass Schleswig sein 400-Jahre-Theater-Jubiläum vielleicht nicht mehr erleben wird. Es ging um das Finanzierungskonzept eines Theaterneubaus. 14,1 Millionen Euro sollen die Neu- und Umbaumaßnahmen kosten, falls das Finanzamt beim Vorsteuerabzug großzügig mit sich reden lässt. Ein multifunktionales Theater- und Kulturzentrum mit 500 Plätzen hatte das Büro DFZ Generalplaner aus Ottensen für eine Machbarkeitsstudie vorempfunden, mehrere Gebäude auf dem Hesterberg, wo ein Volkskundemuseum betrieben wird, das Teil der Landesstiftung Schloss Gottorf ist und nach Meldorf umziehen soll. Der Museumsbestand könnte in ein Zentralarchiv nach Rendsburg kommen. Dann wäre die wertvolle Fläche aus Stiftungsbesitz zu haben, und die Räume wären umbaubar. Auch Kulturministerin Anke Spoorendonk (SSW) plädierte von Kiel aus für den Hesterberg als Schleswigs neue Theater-Adresse.

Doch dann kam, für alle überraschend, keine Mehrheit im Rat, sondern nur ein Patt. 13:13. SPD und SSW waren für den Hesterberg, alle anderen nun dagegen. Wegen 1,5 Millionen Euro und der sehr deutschen Frage, wie man sie ordnungsgemäß korrekt verbucht.

Auslöser dieser Rolle rückwärts: Das Theater wollte der Stadt, die fünf Millionen zugesagt hat, jene 1,5 Millionen Euro als Baukostenzuschuss vorstrecken, die aus einer Kreis-Kulturstiftung und von zugesagten Spendern an die Theater-GmbH kommen sollten. Doch das Gemeinnützigkeitsrecht machte einen Strich durch diese Rechnung und die dann vorgeschlagene Alternativ-Idee einer Mietsonderzahlung erlitt Schiffbruch. Und wenn die Stadt sich nicht auf eine realistische Lösung einigt, wäre auch das versprochene Geld aus Kiel und von mehreren Kommunen wieder weg, über sechs Millionen Euro, die es einzig für den Hesterberg-Umbau gäbe. Danach hätte hier niemand gar nichts, und wer dennoch in ein richtiges Theater will, ohne sich ins Auto oder in einen Fahrdienst-Bus setzen zu müssen, hätte Pech. Schleswig wäre vertraglich gebundener Theater-Gesellschafter und hätte dafür kein eigenes Theater mehr. „Wie das gehen soll, hat mir noch niemand erklärt“, kommentiert Grisebach diese Perspektive. Und dann, wenn das Landestheater pleite wäre, wäre auch ein großer Teil des Bundeslandes mehr oder weniger von professioneller Kultur abgeschnitten, abgesehen von dem einen oder anderen Museum gäbe es nichts mehr außer Amazon, YouTube oder RTL. Ein Dutzend Lokalpolitiker würden mit seinem Abstimmungsverhalten einen Großteil des Bundeslands kulturell veröden lassen. Und eine Stadt, in der man ein Theater als nicht mehr notwendig fürs Leben erachtet, als zu teuer, veraltet, elitär oder sonstwie unnütz? Die gibt viel mehr auf, als sie finanziell einspart.

Jetzt ist das Dilemma also da in der „freundlichen Kulturstadt“, und auf die Bemerkung, wie sehr all das an Becketts absurdes Theater erinnert, prustet Grisebach seinen Galgenhumor laut hinter dem Intendantenschreibtisch heraus. Er hat unter anderem in Hamburg bei Everding gelernt, sein Vertrag wurde vor zwei Jahren bis 2020 verlängert, das sollte ein positives Zeichen sein. „Ich habe noch nie in einer Stadt gewohnt, in der es kein Theater mehr gibt, hier will ich nicht damit anfangen.“

Hesterberg-Gegner befürchten Preisexplosionen oder Terminverzug oder beides und zeigten panisch mahnend nach Hamburg, auf die Elbphilharmonie. Das Land ist so gut wie pleite, viele Kommunen auch. Schleswigs neuer, unabhängiger Bürgermeister Arthur Christiansen ist seit zwei Wochen im Amt und sagt entschlossen, er will das Theater-Problem zur „Chefsache“ machen. Ein Bauamts-Mitarbeiter soll ihm direkt zuarbeiten. Aus Hamburger Sicht klingen diese Versprechen bekannt, aber nicht automatisch gut.

Grisebach hat den Schleswiger Schauspielbetrieb ins Slesvighus verlegt, einen Veranstaltungsraum der dänischen Minderheit, der nicht ideal und nur bis 2015 zu haben ist. Die Symphoniekonzerte finden in einer Schule statt, die dafür noch weniger geeignet ist, aber besser klingt als früher der Theatersaal. Beliebt sei sie deswegen noch lange nicht. 30 Prozent seiner Konzertabonnenten habe er verloren, sagt Grisebach zu diesem Teil seines Problembergs. Wenig später muss das Gespräch enden, denn eine Debatte steht an.

In der A.P.-Møller-Skolen, wo Grisebach, Christiansen und einige andere Lokalpolitiker ihren Auftritt haben, liegen die Nerven ziemlich blank. Die Theaterfreunde Schleswig haben zur Podiumsdiskussion eingeladen, gemeinsam mit den „Schleswiger Nachrichten“. Dort hatte man den Einfall, der Leserschaft einen Theaterneubau-Wahlzettel anzubieten, als ob man Kulturpolitik nach dieser „Wünsch dir was“-Methode praktizieren könnte. Ein Kandidat war die bisherige Adresse Lollfuß 53. Zweite Möglichkeit: der Hesterberg. Version drei und vier: eine Hotelruine und ein ehemaliges Kasernengelände. Fast 65 Prozent der 563 Teilnehmer wollten den Lollfuß, nur knapp zehn Prozent den Hesterberg, für den noch im letzten Mai eine Mehrheit der Ratsversammlung die Machbarkeitsstudie bestellt hatte. Was würde es kosten, so etwas wie auf dem Hesterberg am bisherigen Theaterstandort zu errichten, hatte Grisebach die Autoren der Studie gefragt. Deren Antwort: mindestens 35 Millionen Euro. Und es würde nicht nur viel zu viel kosten, sondern auch viel zu lang dauern. Da ist es wieder, das Beckett-Gefühl. Niemand lacht.

Der Schul-Saal ist voll, in der Bürgergesellschaft brodelt es. In der ersten Reihe sitzt ein älterer Herr, dessen Thesenpapier sehr trendbewusst mit „AUFSCHREI“ überschrieben ist. „Wir gewinnen das Rennen gegen die Zeit nicht, indem wir ein totes Pferd satteln“, sagt Grisebach zu seinem Drängen auf eine Lösung, und Raunen geht durch die Reihen der Lollfuß-Sympathisanten. Nervös ist man nicht nur hier. Flensburger Politiker haben bei ihm Vorschläge bestellt, wie das Landestheater-Konstrukt ohne Schleswig am Leben gehalten werden könnte. Bis Ende Februar, wiederholt er gebetsmühlenartig, müsse man erkennen: „Wir haben hier keine Wahl mehr. Entweder, oder.“ Will man bis 2017 ein Theater bauen, müssen Planungsphasen ebenso genutzt werden wie die frostfreien Monate. Noch länger nachdenken und sehen, wie weit man kommt, das ist bei diesem kulturpolitischen Mobile nicht drin.

Als CDU-Fraktionschef Holger Ley vorschlägt, man könne doch einfach nur eine Bühne mit dem Nötigsten im Lollfuß bauen und alles andere auf dem Hesterberg, wirkt Grisebach, als würde er am liebsten mit dem Kopf auf die Tischkante schlagen, bis diese Idee aus dem Raum vertrieben ist. Ein Grüner denkt laut über Kooperationen mit den Theatern in Kiel und Lübeck nach. „Geht nicht“, bremst Grisebach ihn aus, „wir sind ausgelastet mit unserer Flächenbespielung.“ „Wenn Schleswig kein Theater mehr hat, verliert es einen Teil seiner Seele“, sagt der Bauausschuss-Vorsitzende Klaus Bosholm (SPD) und erinnert auch daran, dass Theater Daseinsvorsorge sei, ein unverzichtbares Angebot einer Gesellschaft an sich selbst. Der realistischste, bedrohlichste Satz des Abends kommt vom frischgebackenen Bürgermeister: „Kein Mensch kann zu einem großen Baukomplex eine Kostengarantie abgeben.“