Das einzigartige Theaterprojekt “Hate Radio“ erzählt von der perfiden Propaganda durch einen ruandischen Sender.

Kampnagel. Es gibt Ereignisse, die zu perfide erscheinen, um glaubhaft zu klingen. Und doch sind sie wahr. Im afrikanischen Ruanda hat der legendäre Nirvana-Song "Rape Me" (zu deutsch "Vergewaltige mich") keine ironische Konnotation wie im Westen. Der Song rotierte Mitte der 1990er-Jahre auf der überaus beliebten Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM). Und die Aufforderung zur Vergewaltigung war hier wörtlich gemeint.

Mit Ohrwürmern wie diesem unterlegte der Radiosender 1994 über viele Monate den Völkermord der Hutu-Mehrheitsgesellschaft an der Tutsi-Minderheit. Zwischen 800 000 und einer Million Angehörige der Tutsi (und Tausende gemäßigte Hutu) wurden aufs Brutalste abgeschlachtet. Die begleitende Propaganda wurde nicht groß versteckt. Zwischen hipper Popmusik und Sportberichten soffen, kifften und grölten die Moderatoren und schürten zu beschwingtem Afro-Pop Hass gegen den "inneren Feind". Später schickten sie vergnügt die Namen der Ermordeten über den Äther.

Diese Ereignisse sind Gegenstand eines einzigartigen Theaterprojektes, akribisch recherchiert und mit Sinn für den Schrecken des Authentischen auf der Bühne umgesetzt. "Hate Radio" war den Juroren sogar eine Einladung zum diesjährigen Theatertreffen der bemerkenswertesten Inszenierungen des Jahres wert. Vom 4. bis 7. Oktober gastiert die Produktion auf Kampnagel. Entwickelt haben sie der Regisseur und Leiter des IIPM (International Institute of Political Murder), Milo Rau und sein Team, zu dem auch der in Hamburg lebende Dramaturg Jens Dietrich zählt. Seit 2007 reflektiert die Formation in einer Kreuzung aus Theater, bildender Kunst, Film und Forschung mithilfe des Reenactments, also der Reinszenierung, historische Ereignisse von großer Tragweite. Verdichtet sie künstlerisch und kreiert eine beklemmende Atmosphäre.

Das Unerhörte, Zynische des Vorgangs offenbart in "Hate Radio" das Nebeneinander von extremer Gewalttätigkeit und dem Bedürfnis nach "Normalität" im Alltag. Jens Dietrich sieht darin Parallelen zwischen dem Entstehen des Rassismus und dem Holocaust. "Die Konstruktion des Feindbildes geschieht ähnlich wie im Antisemitismus und basierte in Ruanda sogar auf Techniken der Propaganda aus dem Dritten Reich. Erst waren die äußerlich als solche erkennbaren Tutsi Gegenstand von Witzen, in denen man sie als ,Kakerlaken' bezeichnete, dann trat eine Gewöhnung ein, und schließlich baute sich Schritt für Schritt eine Vernichtungsideologie auf bis zum krassen Endpunkt." In der Logik dieser Feindbildkonstruktion ging es irgendwann nur noch darum, das Gegenüber auszulöschen, weil sonst die eigene Existenz als unmittelbar gefährdet galt.

Die Theatermacher arbeiteten eng mit den Institutionen in Ruanda zusammen, haben 1400 Seiten Transkriptionen des Radioprogramms aus dem internationalen Völkermord-Prozess gegen die Verantwortlichen kondensiert. Schauspieler, deren Familien in Ruanda leben, verkörpern die drei extremen Hutu-Moderatoren, hinzu kommt ein weißer Italo-Belgier. Der Zuschauer verfolgt auf der Bühne eine typische Radiosendung als szenische Installation, ergänzt durch auf die Wände des Radiostudios projizierte Zeugenaussagen ehemaliger Täter und Opfer.

Der Schweizer Theaterautor, Journalist und Wissenschaftler Milo Rau ist bekannt dafür, politisch brisante Stoffe aufzugreifen. Mithilfe der gleichen Technik hat Rau zuvor "Die letzten Tage der Ceaucescus" konzipiert. Als nächstes Projekt plant das IIPM eine Produktion zu Prozessen gegen in Moskau vor Gericht stehende russische Künstler.

IIPM - International Institute Of Political Murder: "Hate Radio" 4.10. bis 7.10., jew. 20.00, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20-24, Karten 17,-/erm. 10,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de