Katharina Hagena hat nach ihrem Bestseller “Der Geschmack von Apfelkernen“ einen zweiten, neuen Roman geschrieben.

Hamburg. Man kann im Winter, wenn man lange genug auf die Elbe schaut, dieselbe Scholle zweimal vorbeitreiben sehen. Die Elbe fließt, dank des Wechselspiels von Ebbe und Flut, in beide Richtungen.

Dafür liebt Katharina Hagena diesen Fluss, der übrigens wirklich dann besonders beeindruckend aussieht, wenn man ihn von oben betrachtet, von Blankenese aus. Hagena, 44, kommt mit dem Fahrrad zum Interview in Lühmanns Teestube. Dort ist es sehr nett, irgendwie englisch, man würde es komisch finden, sich Kaffee zu bestellen. Dort ist man sehr nett zu Katharina Hagena. Die alte Frau Lühmann hat eben noch die Tische vor ihrem Café abgewischt: Herbstwetter. Jetzt ist die Sonne herausgekommen, und Frau Lühmann sagt zu Katharina Hagena: "Ich werde Ihr neues Buch lesen."

Das neue, das zweite Buch. Das erste nach dem unerklärlichen, kaum fassbaren Erfolgsroman "Der Geschmack von Apfelkernen". Eine Million Mal hat sich der bis heute verkauft. Eine Million Mal! Das ist außerordentlich, schließlich hat man es bei diesem Superseller mit einem schönen und ernsthaften Roman zu tun. Ein Wunder also. Auf den Bestenlisten findet sich doch sonst so oft Seichtes und Mittelmäßiges.

Aber diese ewige Trennung von U & E, sagt Hagena, "die ist doch sowieso doof". Und dann erklärt die Frau, die in Hamburg unter den anspruchsvollen Autoren die erfolgreichste ist, dann erklärt die Frau, deren literarischer Triumph quasi über Nacht kam: "Joyce und Shakespeare sind unterhaltsame, witzige Autoren, überhaupt nicht abgehoben." Ihre Augen, grün wie das Kleid, das sie trägt, blitzen, als sie das sagt. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und hat über den wortgewaltigsten Iren aller Zeiten, den ollen Joyce, promoviert. Vertrauen wir ihr einfach. Vertrauen ist ein gutes Stichwort, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wer zum Million-Dollar-Baby wird, für den es mit dem Erscheinen des Debüts nur in eine Richtung geht, der weckt natürlich Erwartungen, und der hat manchmal auch Angst vor dem Rückfluss des Erfolgs und der Hoffnungen.

"Klar habe ich jetzt beim Schreiben Druck gespürt", sagt Hagena. Sie hat ihm, das lässt sich eindeutig sagen, standgehalten: "Vom Schlafen und Verschwinden" ist ein gutes Buch - tatsächlich (noch) besser und literarisch (noch) ein wenig ambitionierter als der erste Roman, dessen Verfilmung im nächsten Jahr im Kino zu sehen ist.

In der Komposition ist das neue Werk kunstvoll, im Inhalt ergreifend und spannend. Aber am wichtigsten sind die Figuren: die alleinerziehende Ellen, die pubertierende Orla, der verkorkste Doktorand Benno, der rätselhafte Solitär Andreas, die unheimliche Marthe Grieß. Sie alle treffen in einem badischen Dorf (Hagenas Heimat nachempfunden) aufeinander und kämpfen dort mit sich und ihren Verlusten.

Die demenzkranke Mutter Ellens liegt im Wachkoma. Nach ihrem Tod zieht Ellen, die Schlafforscherin ist, nach Hamburg weiter: Von dort aus erinnert sie sich, die nicht mehr schlafen kann, an das Geschehen, das vergangen ist. Die Erinnerung an diese oberrheinische Herkunft hat einen düsteren Firnis. Der Rhein scheint jedenfalls ein anderer Fluss zu sein als die sich jetzt gerade friedlich im matten Frühherbst durch Norddeutschland wälzende Elbe: In den Auen warten zwar Graureiher, aber nachdem die Stechmücken (süddeutsch: Schnaken) ihre Saison beendet haben, sind die Menschen fast unter sich. Sie schleichen suchend durchs Gehölz, und sie drohen zu verschwinden. Auf jeder Seite dieses Romans liegt eine existenzielle Schwere. Wie Mehltau. Das Motivgeflecht ist, wie man so schön sagt, dicht; die belesene Autorin legt es diesmal durchaus darauf an, ihre erzählerische Finesse zu zeigen. Was einen gewissen Ehrgeiz bezeugt.

Gegenüber vom Lühmann liegt das Gymnasium Blankenese. Hagenas 13-jähriger Sohn drückt dort die Schulbank. Hoffentlich schwänze er nicht, sagt Hagena und meint das nicht ganz ernst. Die Tochter ist neun, und über einen Bericht Hagenas erstes Buch betreffend schrieb eine Hamburger Tageszeitung: "Hausfrau aus Blankenese schreibt Bestseller".

Das saß.

Das ärgert Hagena bis heute; nicht, weil sie etwas gegen den ehrenwerten Job einer Hausfrau hat ("Hey, ich bin eine gute Köchin"), sondern weil es ihren Schriftsteller-Beruf in ein seltsames Licht rückte. Schreiben ist harte Arbeit, auch wenn Hagena dabei nach dem Lustprinzip verfährt: Es macht ja Spaß, das Schreiben. Aber sie muss auch diszipliniert sein. Sie schreibt, wenn die Kinder in der Schule sind. Ihr Alltag ist sauber getrennt. Morgens ist sie für sich, "verirrt in den eigenen Gehirnwindungen", wie Hagena das nennt; und nachmittags öffnet sie sich dem Außen.

Lühmanns Teestube ist ein Bestandteil dieses "Außens". Was für ein Geklapper, was für ein verflucht gemütliches Örtchen: der Wohlfühlwinkel Blankeneses. In kleinen Nischen sitzen Pärchen, Freundinnen, Mütter und Töchter. "Zeigen Sie mir ein Buch, in dem es nicht um Familie geht", sagt Katharina Hagena.

Sie jedenfalls hat einen Familienroman geschrieben. Einen, in dem die Beziehungen brüchig sind und nichts zusammenbleibt, was nicht zwingend zusammengehört. Schreiben ist Erinnern, sagt Katharina Hagena, aber Schreiben kann gegen das Vergessen manchmal nichts ausrichten. Es geht in "Vom Schlafen und Verschwinden" auch wieder um die böse Diagnose Demenz. "Vielleicht ist das mein Thema", sagt Hagena, das Motiv taucht ja bereits in ihrem ersten Roman auf. Es steht für die Unzuverlässigkeit der Erinnerung in ihrer krassesten Form.

Apropos Familie: Hagenas Mann ist der erste Leser, aber gar zu kritisch sein darf er nicht - "wenn er mit mir verheiratet bleiben will". Hagena ist selbstironisch, und sie spricht von der Zickigkeit, die sie ab und zu an den Tag lege, wenn andere über ihre Texte urteilen.

Welcher Autor tut das nicht?

Und welcher Schriftsteller liest gerne Rezensionen? Beim ersten Buch hat Hagena das getan, beinah exzessiv. Sie musste sich so von der Wahrhaftigkeit des Geschehens überzeugen, davon, dass sie jetzt wirklich eine Autorin ist, deren Bücher von vielen Lesern verschlungen werden. Ein größeres Glück kann einem, der schreibt, nicht beschieden sein. Nach dem Interview rollt Katharina Hagena die Blankeneser Landstraße entlang in Richtung Zuhause, die Straße senkt sich hier nach unten, und der Wind kommt ein bisschen von vorn.

Aber das ist beides nicht metaphorisch zu verstehen. Das neue, das schwierige zweite Buch wird seinen Weg machen, auch wenn es sich nicht eine Million Mal verkaufen wird. Es hat viele Leser verdient.

Die Lesung mit Katharina Hagena am 25. September (19.30 Uhr) im Literaturhaus ist ausverkauft