Radio bildet und regt zudem noch die Fantasie an. Kultsendungen haben treue Fans - wie das NDR-Comedyformat “Frühstück bei Stefanie“.

Achtung, eine aktuelle Gefahrenmeldung. Auf der B 431 zwischen Wedel und Holm liegt ein Farbeimer auf der Fahrbahn." Autofahren ohne Radio macht keinen Spaß. Wie würden wir sonst erfahren, wie viele Farbeimer, Dachlatten und Maurerkellen unbeaufsichtigt auf deutschen Fernverkehrsstraßen herumliegen? Oder dass täglich Hunderte von Personen, Kühen oder Rehen auf Autobahnen herumwandern, als gäbe es in Deutschland nicht genügend alternative Wanderwege?

Radio überrascht. Um beim Verkehrsfunk zu bleiben: Kaum hat man sich hämisch gefreut, dass der Stau auf der A 7 zwischen Thieshope und Berkhof stattfindet und nicht da, wo man selbst gerade ist, nämlich in Hittfeld, und biegt um die Kurve, sieht man vor sich schon die Warnleuchten. Wie erfährt so ein Verkehrsfunk eigentlich von einem neuen Stau? Radio macht erfinderisch. Täglich suchen Tausende Autofahrer nach neuen Stau-Umgehungen. Sie erkunden dabei Landesteile, in denen sie nie zuvor gewesen sind.

Mehr als 80 Jahre nachdem Anfang der 1930er die ersten Deutschen vor den Empfangsgeräten saßen - oft noch mit Kopfhörern! -, ist das Radio eigentlich technologisch ein Saurier. Glaubt der Smartphone-Besitzer, dem seine gefühlten 700 Apps ständig den Gesamtzustand des Universums vorgaukeln. Aber das täuscht eben. Die Rolle des Gehörs für die menschliche Orientierung wird unterbewertet. Der Mensch ist eben nicht nur ein visuelles, sondern auch ein akustisches Wesen. Man ist, was man hört. Ein Medium, das auf visuellen Budenzauber völlig verzichtet und nur die Ohren bedient, weckt andere, wenn nicht sogar intensivere Gefühle, denn es öffnet der Fantasie ein großes Tor. Das Gehirn muss die fehlenden Bilder selbst erzeugen. Deshalb können aufwendig gemachte Hörspiele ganze Alternheime lahmlegen, an Orson Welles' Hörspiel "Krieg der Welten" sei erinnert, bei dem Radiohörer 1938 an einen tatsächlichen Angriff Außerirdischer glaubten. Kriminalhörspiele im Deutschlandfunk, Deutschlandradio, WDR 5, SWR 2, NDR Info oder Bayern 2 haben längst treue Fans. Ob es um den Mord an einer Psychoanalytikerin geht oder um eine Fernsehmoderatorin, die als Ameise wiedergeboren wird ("Mieses Karma") - das fesselt.

+++ Das hört sich gut an +++

Radio bildet. Neulich beim Bügeln hörte ich auf NDR Info, einem meiner Lieblingssender, ein Radiofeature über Bienen. Da erfuhr ich, dass es in Deutschland mehr als 40 Wildbienenarten gibt. Und dass mancher Züchter von Honigbienen seine Völker Hunderte Kilometer weit zu Landwirten fährt, damit sie dessen Blaubeer- oder Rapsfelder bestäuben. Finden die Bienen das eigentlich gut? Königin: "So, liebe Arbeiterinnen, heute werdet ihr Rapshonig herstellen." Arbeiterinnen: "Nö, machen wir nicht. Wir sind das Volk!" Und wie vertragen sich die Fremdbienen dann vor Ort mit den eingesessenen Wildbienen? Wollen die Fremdbienen hinterher überhaupt wieder nach Hause? Wie gesagt: Das Tor der Fantasie ist weit geöffnet.

Nach der jüngsten Media-Analyse vom Juli 2012 liegt Radio Hamburg als Einzelsender mit 1,19 Millionen Hörern in Hamburg und einem Marktanteil von 24,6 Prozent an der Spitze der Einschaltskala, gefolgt von NDR 90,3 mit einem Marktanteil von 19,5 Prozent.

+++ Gala im Schuppen 52: Radiopreis zum dritten Mal in Hamburg +++

Insgesamt erreicht der NDR mit seinen Einzelsendern von N-Joy bis NDR Kultur immer noch die meisten Menschen im Norden, nämlich 7,1 Millionen. Als in den 1980er-Jahren die ersten privaten Radiosender starteten, begann eine Diversifizierung, die auch die öffentlich-rechtlichen Sender durchdrang. Wir waren keine Hörer mehr, sondern Zielgruppen, für deren Bindung ganz neue Formate erprobt wurden. In den respektlosen neuen Frühstückssendungen kamen Leute zu Wort, denen meine Oma kein Zimmer vermietet hätte, die aber meinen Tag machten. Oliver Kalkofe, John Ment, Dietmar Wischmeyer ("Der kleine Tierarzt") heizten dem Zwerchfell schon vor dem Arbeitstag gehörig ein. Im Grunde war das Radio der Geburtskanal der Comedy-Schwemme, die heute längst ins Fernsehen geschwappt ist.

Nur hat Komik für die Ohren eine viel längere Wirkung als Fernsehsketche. "Frühstück bei Stefanie" auf NDR 2 ist Dittsche fürs Gehör. Noch heute können wir in meiner Familie manche "Stenkelfeld"-Folgen auswendig mitsprechen (zum Beispiel die Reportage "Beamte sollen freundlicher werden" oder Besuch bei dem Schlagerproduzenten "Ralph Sögel"). Der Schöpfer, NDR-Redakteur Detlev Gröning, macht heute die großartige "Wochenschau" im Stil der 40er und 50er. Unvergessen bleiben auch die Telefonstreiche von "Studio Braun". Zum Beispiel Anrufe bei Service-Hotlines, bei denen zur Abwechslung mal der Kunde die Hotline zur Verzweiflung treibt statt umgekehrt. Man sieht ihn quasi vor sich, den eifrigen sächsischen Video-Neuling, der an seinem neuen Rekorder ("Räkordr") verzweifelt, weil er den On/Off-Schalter nicht findet. Oder den hessischen Werber, der mit seinem wichtigtuerischen Business-Englisch ("double feature account consultant") eine überforderte Telefonzentrale verwirrt. Radio schafft allein durch sprachliche Eigenheiten komplette Freund-Feind-Kulissen im Kopf. Es kann aus dem unerschöpflichen Komik-Reservoir deutscher Regionaldialekte schöpfen. Das schafft kein gedruckter Text, kein Fernsehen, das schafft nur das Radio.

+++ Der tägliche Nonsens auf NDR 2: Prädikat "Beste Comedy" +++

Dabei ist das Radio durchaus zur Selbstironie fähig. Kurz vor 23 Uhr sagte ein Sprecher im Deutschlandfunk einmal, bis zu den Nachrichten sei noch etwas Zeit, und kündigte eine Free-Jazz-Nummer an. Wir hörten erstaunt die Geräusche, und mein Begleiter sagte: "Hat's schon angefangen oder blasen die sich erst ein?" Vielleicht hatte ein Free-Jazz-Fan gerade Schichtdienst. Unfreiwillig komisch ist auch der "Möbel-Höffner-Verkehrs-Tower" - bei Radio Hamburg? -, von dem aus angeblich das Verkehrsgeschehen im Großraum Hamburg gesichtet wird. Der erinnert ein bisschen an das "Claudia-Schiffer-Gymnasium" in Stenkelfeld. Vorstellbar wäre auch ein "Fielmann-Planetarium in Süderschmedeby" mit neuesten Nachrichten über nahende Asteroiden oder die "Astra Fachhochschule für innovative Brauereiwissenschaft". Radio erzeugt die verwegensten Ideen.

Aber der stärkste unsichtbare Faden, der uns ans Radio fesselt, bleibt die Musik. Die Wende begann vor 30 Jahren mit den privaten Sendern und hat sich bei den öffentlich-rechtlichen fortgesetzt: Man kann seine Lieblingsmusik heute verlässlich den ganzen Tag lang hören. Man muss nur den richtigen Kanal finden. An einem strahlenden Sommersonntag mitten in Schleswig-Holstein geht nichts über Delta: Zu einer affenartigen Gitarren-Monsterwelle von The White Stripes, etwa "Black Math" oder "Hypnotize", durch die rapsblühende Landschaft zu brettern, das ist fast so wie auf der Route 66.

Andere kacheln mit schmerzverzerrtem Gesicht zu den Hymnen von "Arcade Fire" auf die Kasseler Berge (FFN) oder beseligt zu Tom Pettys "Free Fallin'" auf den Strand von St. Peter-Ording (R.SH). Natürlich kann man dafür auch eine CD einlegen. Aber im Radio plötzlich den richtigen Song zur richtigen Zeit zu hören, das ist ein unverhofftes Geschenk, Weihnachten und Geburtstag zusammen. Manchmal kann es auch Schuberts "Forelle" im Deutschlandfunk sein, die am späten Abend ein Gefühl tiefen Friedens mit der Welt erzeugt.

Das Medium großer Gefühle - als solches ist Radio unverzichtbar. Komisch, denn geschichtlich ist es ja schon retro. Darüber müsste Deutschlandradio eigentlich mal ein Vier-Stunden-Feature machen.

Der Radiopreis als Livestream auf abendblatt.de/radiopreis2012