Alle lesen “Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Geschichte eines erstaunlichen Erfolgs. Autor verkaufte Firma.

Hamburg. Es sind schöne, runde Zahlen, die Johannes Jacob zurzeit im Kopf herumspuken. Die Million zum Beispiel. Wenn Johannes Jacob die Million sehen will, muss er nur im Computer so ein Programm anklicken, das allen Verlagsmenschen zur Verfügung steht. Dort steht, wie viele Exemplare eines bestimmten Titels verkauft wurden. Eine Art Buchometer also, das anzeigt, was die Deutschen lesen und wie gut die Verlage ihre Arbeit gemacht haben. Oder besser: Wie viel Glück sie gehabt haben. Jacob, Chef des kleinen Verlages Carl's Books, der zum großen Konzern Random House gehört, hat ziemlich viel Glück gehabt zuletzt.

Er hat nämlich das Kunststück geschafft, eines der meistgelesenen Bücher der vergangenen zwölf Monate auf den Markt zu bringen: "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" von Jonas Jonasson. Da ist sie also, die zweite Zahl, die Verleger Jacob froh macht: 100. So alt wird ja eigentlich niemand. Allan Karlsson aber schon, der Held dieser spinnerten und lausbübischen Story, die daheim in Schweden schon ein großer Erfolg war. Und jetzt eben in Deutschland, wo niemand mit der überwältigenden Resonanz des Publikums auf den charmant, simpel und plauderhaft erzählten Roman gerechnet hat. "So etwas kann man nicht planen", sagt Jacob.

+++ Und jetzt: das Porno-Buch +++

So ist es. Wo bei den weitaus meisten Titeln - gerade denen, die der sogenannten ernsten und schönen Literatur zuzurechnen sind - mitunter schon eine Anzahl veräußerter Bücher im vierstelligen Bereich ein Erfolg ist, ist ein Millionenseller wie "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" ein Riesenhit. 26 Wochen auf Platz eins der "Spiegel"-Bestsellerliste, mittlerweile erschienen in 30 Ländern - Jonassons Buch ist wahrscheinlich das meistverkaufte Kulturprodukt der vergangenen zwölf Monate in Deutschland. Das Pop-Album "21", dessen Spitzenplatz in den deutschen Charts seit anderthalb Jahren festbetoniert ist, bescherte der Londoner Sängerin Adele im gleichen Zeitraum "nur" 800 000 verkaufte Einheiten. Literatur schlägt Pop: Sachen gibt's!

Warum das Buch so einen Massen-Appeal hat, ist zumindest im Nachhinein relativ leicht zu erklären. Natürlich ist, neben der fluffigen Machart (sympathischer Schelmen-Humor, kurzweilige Handlung), der so unwahrscheinliche Hundertjährige, der spät seine kriminelle Energie entdeckt, eine Gestalt, mit der sich so ziemlich jeder identifizieren kann. Der Alte ist unbeschadet durch ein bewegtes Jahrhundert gekommen, das an Krisen und Katastrophen reich war und die bleierne Jetzt-Zeit wie eine erholsame Kur im Sanatorium aussehen lässt. Und wenn dieser Held es schafft, seinen Optimismus zu bewahren, dann sollte uns das doch auch gelingen. Geschichte ist gar nicht so wichtig, die großen Ereignisse erst recht nicht: Wichtig ist, was man im Hier und Heute daraus macht.

+++ Die Abenteuer eines 100-jährigen Tausendsassas +++

Und der flüchtige Altenheim-Bewohner Allan Karlsson gewinnt Integrität durch den Helmut-Schmidt-Faktor: Die Stammesältesten dürfen auch im 21. Jahrhundert für sich beanspruchen, eine Autorität zu sein. Die Weisheit des Methusalems ist unschlagbar.

"Die Figur ist durch und durch glaubwürdig, obwohl die Geschichten, die sie erlebt, auf den ersten Blick so unglaublich wirken", sagt Jacob. Der alte Mann hat schon ein volles Leben hinter sich, als die eigentliche Geschichte beginnt. Und in der, sagt der Verleger, "prahlt er nicht mit seinen Erfahrungen, er ist nicht besserwisserisch und entdeckt die Welt immer wieder neu - wie ein Kind". Zunächst druckte der in München beheimatete Verlag nur 20 000 Exemplare. Mittlerweile beträgt eine neue Auflage auch schon einmal 50 000 Bücher. Die Dimension des Erfolgs hat die Buchmacher aus dem Süden also durchaus vom Hocker gerissen: Zumal sich der Buchhandel in einer kleinen Krise befindet. Im ersten Halbjahr 2012 sank der Umsatz um 2,6 Prozent, in den Buchhandlungen sogar um 5,4 Prozent. Die Menschen kaufen immer lieber im Internet ein (gerne auch E-Books), Thalia macht Filialen dicht und kleine Buchhändler geben auf - da bestaunt die Branche umso ungläubiger solch (freilich singuläre) Erscheinungen wie "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand".

Bestseller hat es ja immer schon gegeben. Man betrachte nur die riesige Leserschar, die mehrteilige Schmöker wie "Harry Potter" und "Twilight" gefunden haben. Jussi Adler-Olsen hat in diesem Jahr anderthalb Millionen Bücher verkauft. Auf der Bestsellerliste befinden sich derzeit drei seiner Titel.

Das ist deswegen nicht ganz so überraschend, weil Krimis und Psychothriller immer Konjunktur haben. Krimis sind Dauerbrenner auf Verkaufslisten, obwohl sie doch, grob gesprochen, alle nach demselben Muster ablaufen.

Den Geschmack des Publikums kann man auch treffen, wenn man nicht auf gängige Themen zurückgreift: Wirklich kriminell ist die Rentner-Clique um den hundertjährigen Ausbüxer ja nicht. Die Fantasie des Autors Jonas Jonasson sei raffiniert, sagt Verleger Jacob; und das stimmt: In seiner leichtfüßigen und doch auch irgendwie existenziellen "Forrest Gump"-Version verbindet Jonasson Roadtrip und Komödie, Zeitreise und Schelmenstück.

Jonasson lebt auf einer schwedischen Insel und kann wahrscheinlich immer noch nicht fassen, wie recht er vor einigen Jahren gehandelt hat. Damals verkaufte er, von einer Krankheit genesen, seine Firma mit über 100 Angestellten, um fortan nur noch zu schreiben. Sein neuer Roman ist gerade in Arbeit. Die Startauflage wird riesig sein, garantiert.

Und aller Voraussicht nach wird es kein Buch sein, das die Axt ist für das gefrorene Meer in uns. Denn wie die meisten der millionenfach verkauften Superseller verändern Bücher wie die von Jonas Jonasson oder Jussi Adler-Olsen, von Stephenie Meyer oder Ken Follett nicht das Leben ihrer Leser. Sie rufen keine lebensnotwendigen Reflexionen hervor und sind manchmal direkt nach Beendigung der Lektüre vergessen. Das wiederum wird dem "Hundertjährigen" nicht passieren: Er ist ein Original, das aus einem erstklassigen Unterhaltungsraum in die Köpfe der Menschen gesprungen ist.

Jonas Jonasson: "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand". Carl's Books. Übers. Wibke Kuhn. 416 S., 14,99