Wie viel Eigenständigkeit lässt eine türkische Familie zu? Und wie weit geht sie, um ihre “Ehre“ zu verteidigen? Die Tragödie “Die Fremde“ gibt Einblicke in alltägliche Dramen.

Hamburg. Ihr Kopf ist gesenkt: wenn sie die Hand des Vaters zur Begrüßung küsst, demütig. Oder wenn sie mit der Familie um den Esstisch sitzt und sich nicht traut, ihnen in die Augen zu sehen und zu sagen, dass sie nicht nur zu Besuch aus Istanbul nach Berlin gekommen ist, sondern für immer. Weil sie die Gewalt, die Gefühlskälte ihres türkischen Ehemannes nicht länger aushält.

Doch dann, etwa in der Mitte des Films, richtet Umay sich auf, drückt an einem Frühlingsmorgen, die Sonne geht gerade auf, den Rücken durch, schüttelt die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und legt den Kopf in den Nacken. Als wolle sie sagen: Hallo, Freiheit, so fühlst du dich also an.

Dass diese Freiheit nicht möglich ist, nicht für Umay und ihren kleinen Sohn Cem, davon erzählt Feo Aladag in ihrem beeindruckenden Regiedebüt "Die Fremde", der am Donnerstag in den Kinos startet.

Die ersten beiden Male musste sie weinen, als sie "Die Fremde" sah, erzählt die 29 Jahre alte Hamburger Schauspielerin Sibel Kekilli. Sicher, das ist für sich genommen noch kein Qualitätsmerkmal, benennt aber doch eine ganz entscheidende Eigenschaft des Films: Es ist die Geschichte über die unglaubliche Tragik einer verpassten Chance. Über das Scheitern einer gegenseitigen Annäherung und einen Hoffnungsschimmer, der am Ende eben doch stirbt.

Mit der Rolle der jungen Türkin Umay feiert Kekilli hier, sechs Jahre nach Fatih Akins "Gegen die Wand", eine Art Comeback. Wo sie zuletzt als rastloses Partymäuschen in Dieter Wedels Fernsehzweiteiler "Gier" seltsam deplatziert wirkte, ist Kekilli in "Die Fremde" wieder ganz bei sich. Genauer: bei Umay und deren tiefer Verzweiflung darüber, dass ihre Eltern und Brüder sie tatsächlich verstoßen und unfähig sind zu verstehen, wie jemand sein eigenes Glück über die (zweifelhafte) Familienehre stellen kann.

Es ist eine Verzweiflung, die sich erst in Tränen ausdrückt und später in Kampfgeist, in dem festen Willen, ihr Leben und das ihres Sohnes in die eigene Hand zu nehmen. Umay flüchtet aus der Familienwohnung, findet einen Job als Küchenhilfe, verliebt sich in einen anderen Mann (Florian Lukas) - Dinge, die nicht sein dürfen in den Augen derer, die bestimmten Ehrbegriffen der alten Heimat die Treue halten. Der Preis, so scheint es, spielt dabei keine Rolle.

Umays Schicksal ist eines, auf das viele Menschen nur dann aufmerksam werden, wenn es einen blutigen Ausgang findet und in den Abendnachrichten oder auf der Titelseite der Zeitungen auftaucht - wie etwa 2008 im Falle der Hamburger Deutsch-Afghanin Morsal O. Als Plädoyer für mehr Einfühlung will Regisseurin Aladag, die anderthalb Jahre in Castings nach einer geeigneten Hauptdarstellerin suchte und sich dann - trotz des Bekanntheitsgrades, den sie eigentlich umgehen wollte - für Kekilli entschied, ihren Film verstanden wissen. Als Schrei nach Liebe gewissermaßen - und darüber hinaus als Anstoß einer Debatte hierzulande über sogenannte Ehrenmorde und den Willen zur Integration.

Es ist die große Stärke dieses Films, nichts zu beschönigen und niemanden zu verurteilen. Auch Umays Vater nicht, dem die eigene Härte gegen seine älteste Tochter buchstäblich das Herz bricht. Nicht den Bruder, der irgendwann mit einer Waffe auf die Schwester zielt. Dass es am Ende anders kommt, als der Zuschauer glaubt, noch schlimmer, unerbittlicher - auch das ist das Verdienst dieses Melodrams, das aufwühlt, ratlos macht und wütend wie lange schon kein deutscher Film mehr.

Wenn der Abspann schließlich über die Leinwand rollt, bleibt eine große Leere und Traurigkeit zurück. Darüber, dass Umay nie wieder ihr Gesicht den ersten Sonnenstrahlen des Tages entgegenrecken wird, glücklich.