Der Fußball ist eine Welt für sich. Das hat Massimo Furlan, ein Schweizer mit Wurzeln in Italien, schon überall auf der Welt festgestellt.

Hamburg. Furlan ist Performance-Künstler, ein besonders aktiver noch dazu. Am Sonntag um 20 Uhr schlüpft der 44-Jährige im Millerntor-Stadion in seine Rolle als ein Held des DDR-Fußballs. Furlan ist dann für 90 Minuten plus Halbzeitpause Jürgen Sparwasser, jener Ostkicker im blauen Trikot mit dem DDR-Schriftzug, der bei der WM 1974 ausgerechnet im Hamburger Volksparkstadion das goldene Tor gegen die erfolgsverwöhnten Westdeutschen schoss. Dieser Treffer ist mehr als Ostalgie, er ist ein Stück Weltfußballgeschichte und für viele Fußballfreunde mit jeder Menge Erinnerungen verbunden.

Erinnerungen sind auch das Stichwort, das Furlan auf den Plan ruft. "Meine Arbeit ist das Wecken von Erinnerungen", sagt der in Lausanne geborene Künstler, der ein außergewöhnliches Kunststück fabriziert. Nicht nur, dass er das deutsch-deutsche Länderspiel in gesamter Länge in der Rolle Sparwassers nachspielt - mit Laufwegen, Grätschen, Verschnaufpausen und natürlich dem Singen der Nationalhymne -, er macht dies alles alleine und ohne Ball. "Wenn mich Freunde und Bekannte, die dem Fußball sehr zugeneigt sind, nach meiner Performance fragen und hören, dass ich ganz alleine auf dem Platz stehe und nicht einmal einen Ball dabei habe, winken sie ab und halten mich für sonderbar", erzählt Furlan lachend.

Ja, vielleicht ist er das sogar, im positiven Sinne. Er selbst nimmt das Fehlen des Lederballs, der Gegen- und Mitspieler gar nicht wahr. Weit mehr als 100-mal hat sich Furlan das gesamte 74er-Spiel schon als DVD angeschaut, hat Radioreportagen verfolgt und Berichte zu dem Spiel gelesen, um Sparwassers Verhalten auf dem Rasen möglichst authentisch nachzuspielen. Drei Monate lang hat er sich ins Trainingslager begeben, um für die Strapazen der Spielzeit gewappnet zu sein. "In der Pause schnaufe ich durch und trinke viel Wasser - und nach dem Spiel freue ich mich auf die Massage. Wenn ich die nicht bekomme, kann ich zwei Tage lang kaum laufen."

Wie man auf so eine abgedrehte Idee kommt, beschreibt Furlan voller Leidenschaft. Er habe als Kind mit einem kleinen Radio stets die Topspiele der italienischen Liga verfolgt. "Wenn man diese Beschreibungen von Toren, Fouls und Passfolgen hört, dann entsteht dank Fantasie und eigener Interpretationen ein traumhaftes Geschehen. Ich habe viele Spiele und Szenen in meinem Zimmer nachgespielt, und wenn mein Radioempfang mal gestört war - was häufiger vorkam -, habe ich die Rolle des Kommentatoren übernommen: 'Ich, Massimo Furlan, freue mich, ihnen dieses besondere Spiel schildern zu dürfen. Die Stimmung ist atemberaubend, die Mannschaften sind heiß ...'"

Furlan lebt seine Kindheitserinnerungen aus. Seine Kunst sei eine Mixtur aus Erinnerungen, Träumen von Heldentaten und Geschichtenerzählen - alles in Verbindung mit Fußball. Dass er selbst nie in einer richtigen Mannschaft gespielt habe, obwohl er von den Platinis, Beckenbauers und Maradonas der Fußballwelt begeistert war, betrachtet er nicht als Hindernis. "Vielleicht liegt es auch daran, dass mein einziger echter Auftritt mit einer Jugendmannschaft auf einem richtigen Sportplatz mit einem Fußbruch endete", sagt Furlan und tippt sich gegen den rechten Knöchel.

Bei den Betrachtern seiner Auftritte - er war in Halle, Leipzig, Wien, Marseille, Paris aktiv - hat der Schweizer aber stets eine ähnliche Beobachtung gemacht. Anfangs belustigen sich die Zuschauer, die allesamt mit kleinen Radios und den Originalkommentaren von 1974 versehen werden, an seinen Darbietungen, "bis sie begreifen, dass ich es ernst meine und mein Programm 90 Minuten absolvieren werde". Dann versteht sich das Publikum als Teil der Performance, als Fanblock, der neben dem Torschrei allerhand Faxen wie Anfeuerungen, Pfiffe oder auch die Welle, La Ola, auf den Rängen produziert. "Ich genieße das. Dadurch entsteht eine gemeinsame Partie", sagt Furlan, der sich aber nicht zu sehr auf die Rufe von den Tribünen konzentrieren darf, weil er den Regieanweisungen seines Knopfes im Ohr lauschen muss: "Damit ich weiß, wo ich in zehn Sekunden hinrennen muss. Der Sparwasser ist echt viel zu viel gelaufen ..."

Furlan hat bei der Wahl seiner Performance-Spiele bislang mit Vorliebe westdeutsche Blamagen ausgewählt. Er stand als Hans Krankl bei der "Schmach von Córdoba" gegen Deutschland auf dem Platz, nun also als Sparwasser. Ob er etwas gegen die Deutschen habe, liegt da als Frage nahe. Nun prustet Furlan, als habe er die erste Halbzeit bereits absolviert, vor Lachen: "Nein, nein, nein. Das ist eher Zufall und liegt wahrscheinlich an den vielen Erfolgen der Deutschen, die dadurch natürlich auch Helden bei Gegnern hervorgebracht haben." Er selbst schlüpft nun für 90 schweißtreibende Minuten selbst in die Heldenrolle, schafft ein ungewöhnliches Gedankenkino - eine Welt für sich.