Der Schriftsteller Paul Auster hat mit “Sunset Park“ ein deprimierendes wie euphorisierendes Buch über seine Heimatstadt geschrieben.

Heimat war immer schon ein schwieriger Begriff, umso mehr ist er es heute im Zuge von Globalisierung, Migration und Wirtschaftskrise. Wenn Herkunft zunehmend an Bedeutung verliert, Arbeitsplätze nicht sicher sind, ganze Viertel sich der Gentrifizierung beugen - welche Auswirkungen haben diese Umbrüche auf unsere Identität? Aus der Annahme, dass wir in einer Welt des Zufalls und unaufhörlichen Chaos leben, hat der Schriftsteller Paul Auster schon so manchen Roman komponiert. Auch "Sunset Park" handelt von kaputten Träumen und verlorenen Zeiten, von einer Generation ohne Hoffnung und einem Land, das seinen Optimismus eingebüßt hat. Im Mittelpunkt stehen vier junge Leute, die im New Yorker Viertel Sunset Park eine heruntergekommene Villa besetzen - keine Freunde, vielmehr eine Schicksalsgemeinschaft, die das fehlende Geld und die Planlosigkeit zusammengeführt hat.

Der einsame Cowboy Miles Heller hat zuletzt als Entrümpler gearbeitet - eine nach Lehman-Brothers-Pleite und Immobilienkrise im Herbst des Jahres 2008 durchaus profitable Tätigkeit. Aber Miles stopft sich, anders als seine Kollegen, nicht die Taschen voll mit schwarzmarkttauglichen Überbleibseln, er sucht zwischen Teegeschirr, schmutzigen Socken und toten Kanarienvögeln nach der Seele der Bewohner an den geisterhaften Orten; jedes Haus erzählt eine Geschichte des Scheiterns.

Bing Nathan wiederum, ein struppiger Bär mit Vollbart, verbringt seine Tage in der "Klinik für kaputte Dinge", ein so rührender wie nutzloser Laden, in dem er Schreibmaschinen und Röhrenradios, Kaugummiautomaten und Telefone mit Wählscheiben vor dem endgütigen Verschwinden bewahrt.

Ellen ackert für ein Gehalt unter dem Mindestlohn, Alice quält sich mit ihrer Dissertation über William Wylers "Die besten Jahre unseres Lebens" von 1946 - jenen Klassiker über drei Männer, die der Krieg gebrochen hat.

+++ Ein wundersames Buch, das einem das Herz stiehlt +++

Wylers Film ist das Leitmotiv des Romans (der ohnehin gefüllt ist mit literarischen Motiven von Beckett über Kafka bis F. Scott Fitzgerald), steht er doch für Entfremdung und die Unmöglichkeit der Kommunikation innerhalb der Familie. Familie ist das eigentliche Thema, um das Auster kreist. Er entlarvt das heile Familienbild als trügerisch und behauptet gleichzeitig: Es gibt nichts Kostbareres. Wenn man so will ist "Sunset Park" eine moderne Geschichte vom verlorenen Sohn. Beinahe acht Jahre ist es her, dass Miles über Nacht seine Sachen gepackt und Florida hinter sich gelassen hat. Seine Beziehung mit der minderjährigen Pilar Sanchez, blitzgescheite Tochter kubanischer Einwanderer, zwingt ihn dazu. Und dann sind da noch die nicht kleiner werdenden Schuldgefühle für den Tod des Halbbruders.

"Ein Buch über Häuser und Heimaten", hat Auster den Roman genannt, den er in nur fünf Monaten geschrieben hat. Der Tonfall ist schwermütig, so als habe der Schriftsteller gar nicht erst versucht, das Gefühl der Nostalgie in den Griff zu bekommen.

Im traurigsten Kapitel erzählt er von der 23-jährigen Suki, einer angehenden Künstlerin aus bestem Hause, die sich in der Damentoilette des Guggenheim-Museums erhängt hat. Was ist das für eine Welt?, fragt sich der Verleger Morris Heller (Vater ebenjenes Miles Heller) auf der Beerdigung, in der die Hoffnungen junger Menschen zugrunde gehen, in der es keinen jugendlichen Überschwang mehr gibt, sondern nur noch Angst.

+++ Hamburger Bestseller +++

Auster, der sonst gern die Bedingungen des Erzählens auslotet, verzichtet diesmal zugunsten des Plots auf postmoderne Spielereien. Mit großer Zartheit schildert er seine Figuren und blickt ihnen tief in die Seele bei ihrem stummen Kampf mit dem Sinn des Lebens und der Brüchigkeit der Patchworkkonstrukte. "Familie mag ein Trümmerhaufen sein, aber auch das ist deine Familie", denkt sich Morris Heller, der längst weiß: Heimat ist ein anderes Wort für Familie.

So gesehen ist das, was Miles und seine Mitbewohner zu ihrem Lebensmittelpunkt erkoren haben - "ein trostloses Stück architektonische Dummheit, das sich überhaupt nirgendwo einfügen würde, weder in New York noch außerhalb" -, natürlich nur Durchgangsstation, kein Zuhause, für niemanden. Anders als das Prenzlauer-Berg-hafte Park Slope ist Sunset Park ein Viertel aus traurigen Einwandererschicksalen und Armut. Und nicht von ungefähr liegt gleich gegenüber der riesige Green-Wood-Friedhof, der Zeuge ist von der Macht des Zufalls über das Leben der Menschen.

+++ Auf hoher See mit Alexandre Dumas +++

"Sunset Park" ist ein lässiges, deprimierendes, euphorisierendes Buch, eine Hommage mit strapaziertem Herzen an die Stadt New York, die Austers Heimat ist und seit jeher der Kosmos seiner Figuren. Nach rund 300 Seiten hat der Leser sie lieb gewonnen, diese verzagten und zugleich todesmutigen jungen Helden, denen das Schicksal oft grausam mitgespielt hat. Es ist auch diese Lebensnähe, die Austers Roman so ergreifend macht. Vor allem berührt die Figur von Miles, der in einer Art Vorhölle feststeckt, seit er den Bruder auf die Fahrbahn gestoßen hat; seit seine Mutter, eine berühmte Schauspielerin, ihn nach der Geburt verlassen und der Karriere den Vorzug gegeben hat; seit er getrennt lebt von seiner großen Liebe Pilar, der einzigen Person in diesem Roman, die optimistisch in die Zukunft blickt. Ohne Heimat, erzählt Paul Auster, ist man nur ein halber Mensch.

Paul Auster: "Sunset Park". Ü.: Werner Schmitz, Rowohlt, 315 Seiten, 19,95 Euro