Eine märchenhafte Zeit zu Weihnachten: Die ARD hat vier Geschichten der Brüder Grimm sowie “Nils Holgerssons wunderbare Reise“ verfilmt.

Es war einmal ... - so beginnt fast jedes Märchen. Doch der Blick in die Vergangenheit ist eigentlich deplatziert. Mit Sicherheit werden unsere Enkel noch ihren Kindern von bösen Hexen, guten Feen, Schneiderlein und Stadtmusikanten erzählen. Märchen sind nun einmal für die Ewigkeit - selbst im schnelllebigen Fernsehen. Und es füllt sich, gerade zu Weihnachten, mit allem, was das Genre hergibt. Besonders in der ARD.

Seit 2008 verfilmt sie die Märchen der Brüder Grimm und einige von Hans-Christian Andersen. Deren Werke würden "modern modelliert", pflegt Programmchef Volker Herres zu sagen. Vier weitere Adaptionen kommen ab Sonntag hinzu. Reich umrahmt von neuen Wiederholungen, alten Klassikern und einer Premiere: "Nils Holgerssons wunderbare Reise", bislang eher als Zeichentrickserie aus den Achtzigern bekannt, wird jetzt von Schauspielern dargeboten - Justus Kammerer als geschrumpfter Held, dazu Hinnerk Schönemann, Hanns Zischler oder Kurt Krömer in sichtbaren Rollen und als Gänse zumindest hörbar Bastian Pastewka und Yvonne Catterfeld.

Nicht nur Stars machen den Zweiteiler indes zur Krone öffentlich-rechtlicher Erzählkunst: Mit nun mehr 22 Filmen, pardon: modernen Modellen, gilt der Kanon als abgeschlossen. Das zeigen schon die aktuellen Titel: "Jorinde und Joringel" oder "Die zertanzten Schuhe" dürften eher Kennern geläufig sein. Aber was zählt, ist das Gesamtpaket. Fast 50 deutsche wie tschechische Perlen laufen allein ab Heiligabend, darunter achtmal "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" von 1973. Das ZDF legt seit sieben Jahren ein Stück neu auf, diesmal präsentiert das Zweite Heiligabend Michael Mendl in der Rolle des Eisenhans. Nur die Privatsender bleiben selbst in ihren Kindersparten komplett märchenfrei.

Sind Märchen aber überhaupt noch zeitgemäß? Die Antwort lautet: jein. Erzählt werden antiquierte Geschichten barocker Charaktere in einer Welt, die der unseren fremd ist. Mit konservativem Sippendenken, das modernen Patchworkfamilien zuwider läuft. Das Ganze in einem Tempo, das jungen Sehgewohnheiten hinterherhinkt. Vermittelt durch eine Bildsprache, die allen digitalen Tricks zum Trotz selbst mit der überschaubaren Dynamik von "Bob dem Baumeister" nicht mithalten kann.

Doch dann ist da dieser Zauber, ein "mythischer Kern", wie der Theologe Norbert Schneider meint: "Klare Verhältnisse mit der Überraschung des Wunders". Dank des Wiedererkennungswertes schafft das aus Sicht des früheren Direktors der nordrhein-westfälischen Landesmedienanstalt einen Kosmos, "in dem man sich total gehen lassen kann". Und zwar ethisch grundiert statt haltlos wie im kommerziellen Reizgewitter. Märchen sind deshalb unzerstörbar, schreibt die Literaturkritikerin Evelyn Finger, "weil sie von unseren Träumen und unserer Verzweiflung handeln". Weil sie Moralbegriffe bebildern, die altbacken sein mögen, aber nicht nutzlos.

Mit ihrer klaren Einteilung in Gut und Böse, Richtig und Falsch, ordnen sie die Realität. Mit mal despotischen, mal gütigen Herrschern heroischer bis feiger Untertanen lehren sie uns den Charme von Ungehorsam und Fehlbarkeit. Mit redenden Tieren, süßen Kobolden, weisen Magiern erfahren wir die Kraft der Fantasie, dank der noch jeder Prinz die arme Bauerstochter aus dem dunklen Wald holt. All dies macht das Märchen zur Schule des Herzens. Es nährt in uns Hoffnung und Zweifel.

Verglichen mit dem Restprogramm ist das ein recht komplexes Vergnügen für die Kernzielgruppe der Dreijährigen bis 13-Jährigen. Schließlich sammelten die Grimms vor zwei Jahrhunderten Märchen ja eher für Wissenschaftler als für deren Sprösslinge, wie Heinz Rölleke herausfand. Mit jeder Auflage aber wurden ihre "Kinder- und Hausmärchen", die der Germanist 1975 als Anthologie französischen Ursprungs entlarvte, so lange verniedlicht, bis sie zum Vorlesen für Heranwachsende taugten. Umso erstaunlicher, dass ihr Kern subversiv blieb. Jede Figur, so Rölleke, verstoße in ihrem Reifeprozess gegen Gebote. "Auch Rotkäppchen schert sich nicht um Ermahnungen."

Märchen sind unangepasst, autoritätskritisch, fast rebellisch, vor allem aber: familiär. Jacob Grimm war lange verärgert, dass für den Verkaufserfolg "Kind" im Buchtitel stand. Heute versammeln "nur Märchen alle Generationen am Lagerfeuer des Medienzeitalters", erzählt der Redaktionsleiter Programmplanung des Kinderkanals Ki.Ka, Stephan Rehberg. Wenn sein Sender jeden Sonntagnachmittag Märchen ausstrahlt, fesselt er damit ein Publikum von bis zu zwei Millionen Zuschauern. Den Eltern unter ihnen, glaubt Rehberg, "geht es weniger um Erziehung als um Romantik". Die Moral von der Geschicht' sei eher ein Zubrot. Auch für die Sender und ihre Darsteller, von Uwe Kockisch über Barbara Auer und Katja Flint bis Axel Prahl. Grimms Werke werden neu verfilmt unweigerlich zum Standardwerk in Endlosschleife, deren Wiederholungen sich schon kurz nach der Premiere häufen. Anders als die Abstraktion hektischer Comic-Märchen haben die alten Sagen der Grimms ewige Halbwertszeiten. Gestrig und modern, grausam und schön, real und zauberhaft - wie das Leben.

Die Sendetermine der Märchen:

Der Eisenhans, Sa 15.30 Uhr, ZDF

Jorinde und Joringel, So 14.00 Uhr, ARD

Aschenputtel, So 15.00 Uhr, ARD

Nils Holgerssons wunderbare Reise (1), So 16.00 Uhr, ARD

Die Sterntaler, Mo 14.20 Uhr, ARD

Die zertanzten Schuhe, Mo 15.20 Uhr, ARD

Nils Holgerssons wunderbare Reise (2), Mo 16.20 Uhr, ARD