Vor 200 Jahren wurde das Multitalent Franz Liszt geboren. Eine Annäherung an den verkannten Virtuosen, der schon mal einen Flügel zerdonnerte.

Er war ein Tastenmeister, der schon mal auf offener Bühne einen Flügel zerdonnerte. Er war ein Verführer, der beinahe dem Revolverschuss einer eifersüchtigen Verflossenen zum Opfer gefallen wäre. Und ein Verehrter, dem seine Landsleute wie in Tausendundeiner Nacht einen edelsteinbesetzten Säbel zum Geschenk überreichten.

Franz Liszt, Pianist, Dirigent, Komponist und vieles andere, einer der leuchtendsten Sterne des 19. Jahrhunderts, war alles im Übermaß. Und wie so oft bei starken Persönlichkeiten war das Gegenteil nie fern: Er behexte die Frauen und war zutiefst katholisch; er gab sein Geld mit vollen Händen aus und spendete noch dann für Bedürftige, wenn er selbst nichts hatte; er lebte in wilder Ehe mit Damen des Hochadels und konnte sich mit mönchisch einfachen Unterkünften begnügen.

Was war es, das Zeitgenossen so hinriss, vom federnden Jüngling bis hin zum Greis im Priestergewand? "Lisztomanie" hat der scharfzüngige Dichter Heinrich Heine die kollektive Hysterie genannt, und "Lisztomania" heißt es auch in diesen Wochen allenthalben - lässt sich doch damit vermarkten, was an Konzerten, Publikationen, Würdigungen zu Liszts 200. Geburtstag am 22. Oktober stattfindet. Mit damals ist das allerdings nicht zu vergleichen - und übrigens auch nicht mit dem Auftrieb, den die Jubilare der vergangenen Jahre landauf, landab erfahren haben, ob sie nun Händel oder Haydn, Mendelssohn, Chopin oder Mahler hießen.

Diese Zurückhaltung hat Gründe. Zum einen fühlt sich für den Europäer Liszt kein Land so ganz zuständig. Wohin mit dem ungarischen Patrioten, der kein Wort Ungarisch sprach, dessen Eltern ihn auf Deutsch erzogen und der sich zeitlebens im Französischen am wohlsten fühlte? Seine eigentliche Heimat war die Straße, von Lissabon bis Moskau feierte er Triumphe; selbst als über 60-Jähriger ist er noch zwischen Weimar, Budapest und Rom gependelt.

Dazu kommt tief sitzende Skepsis. Vieles von dem, wofür Liszt steht, gilt heute als überholt, ja verzopft. Dabei war er der große Neuerer seiner Zeit. Hatte bis dahin das Publikum nur das Hinterteil des Flügels zu sehen bekommen, drehte Liszt das Instrument seitlich zum Publikum, sodass erstmals der Pianist im Profil zu sehen war und als Persönlichkeit in Erscheinung trat. Er hat das moderne Konzertformat geprägt und die damals üblichen nicht enden wollenden Potpourris abgelöst.

Vor allem aber war er, neben dem Teufelsgeiger Niccolò Paganini, der Inbegriff eines neuen Künstlertypus, nämlich des Virtuosen. Er spielte Werke für beide Hände nur mit der linken, fettete Akkorde und jagte in aberwitzigem Tempo über die Tastatur.

Doch was uns heute hohlen Geklingels verdächtig ist, entwickelte sich damals erst zu einer Tugend. Tugend übrigens ganz wörtlich: Mit diesem Beiklang hat der Begriff für persönliche Tüchtigkeit und überragende Leistungsfähigkeit in der Renaissance seinen Ausgang genommen. Liszts Virtuosität geht über das Handwerklich-Manuelle weit hinaus. Bei dem begnadeten Improvisator befruchten sich Klang- und Formfantasie und die Beherrschung noch der absurdesten Schwierigkeiten gegenseitig. Seine h-Moll-Sonate ist ein Beispiel für diese Synthese von halsbrecherischen Anforderungen, beredter Farbigkeit und Tiefsinn.

Ausgerechnet Liszts überbordende Schöpferkraft war es, die ihm als Komponisten für lange Zeit den Ruf eines zweitrangigen Vielschreibers eingetragen hat. Er hatte zu viele Ideen, um sich um die endgültige Gestalt seiner Klavierwerke, Kammerkonzerte, Messen oder Sinfonischen Dichtungen zu kümmern oder Ausschuss herauszufiltern. Rund 800 Stücke umfasst sein Werkverzeichnis; Banales findet sich neben Wegweisendem wie seiner "Faust-Sinfonie", in der er Goethes Protagonisten kongenial porträtiert. Gerade sein Spätwerk ist oft radikal modern in seiner reduzierten Tonsprache - das haben viele Zeitgenossen schlicht nicht verstanden.

Dafür nutzten sie seine Großzügigkeit. So sehr Liszt die Selbstinszenierung auf dem gesellschaftlichen Parkett liebte, so generös war er anderen gegenüber, sogar wenn er gerade finanziell klamm war. In einem politischen Hasardeur und steckbrieflich gesuchten Sachsen namens Richard Wagner etwa erkannte Liszt den genialen Komponisten. Am Weimarer Theater, wo Liszt Hofkapellmeister war, führte er dessen Opern auf; er hielt den Künstler Wagner auch dann noch hoch, als seine Tochter Cosima aus ihrer Ehe mit dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow ausbrach und mit Wagner durchbrannte, wie Liszt den beiden vorwarf.

Sein ausgeprägtes Moralempfinden beißt sich auf den ersten Blick mit seinem Lebenswandel. Liszt war höchst empfänglich für den Charme der Damen, die ihm bei jedem Auftritt zu Füßen lagen, die seine Zigarettenstummel aufrauchten und seinen stehen gelassenen Tee in Flakons füllten. Seine Lebensgefährtinnen, die Gräfin Marie d'Agoult und später die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein, hatten allen Grund zur Eifersucht.

Doch zugleich hielt er an diesen Beziehungen unverbrüchlich fest und bewies damit Treue im höheren Sinne. Treue, die er auch Wagner entgegenbrachte. Der hat sie ihm nicht gedankt. Dass Liszt sich der Kirche zuwandte, dafür fand der kirchenkritische Wagner, längst waren er und Cosima verheiratet, nur Worte ätzenden Spotts. Freundlich war Wagner, wenn er etwas von Liszt brauchte. Liszt wusste das - und ging souverän darüber hinweg. Dem toten Freund setzte er ein anrührendes Denkmal mit der Elegie "Am Grabe Richard Wagners", die den Schluss von Wagners letzter Oper "Parsifal" zitiert.

Liszts letzte Besuche in Bayreuth waren überschattet von einer allzu offensichtlichen Doppelmoral seiner Tochter Cosima: Einerseits sollte der alte Herr den Festspielen durch seine Anwesenheit Glanz verleihen, andererseits bitte nicht im Wege sein. Einsam und qualvoll, so ist einer der begehrtesten Männer des 19. Jahrhunderts am 31. Juli 1886 in Bayreuth gestorben.